Luxemburg

"Ich komme aus dem Staunen nicht heraus."
Rosa Luxemburg (1871-1919)


Ich war noch ein junger Bursche, als ich zum ersten Mal etwas von Rosa Luxemburg las. Voller Neugier hatte ich mir ein schmales B„ndchen gekauft, das 1950 im Dietz Verlag erschienen war. "Briefe aus dem Gef„ngnis" klang genau nach dem, was ich damals von dieser Frau wusste: Sie hatte die KPD mitbegrndet und war im Januar 1919 ermordet worden. Doch dann kam die šberraschung. Die Briefe sprachen von Nachtigallen und Silberpappeln, von Stimmungen und Gefhlen, von Literatur und Musik. Ich lernte in den Briefen eine weichherzige, gefhlsbetonte Frau kennen, die so gar nicht zu den Vokabeln "Klassenkampf" und "Revolution" zu passen schien. Und dieser erste Eindruck ist mir nie aus dem Kopf gegangen, was immer ich sp„ter noch von und ber Rosa Luxemburg geh”rt und gelesen habe. Nicht die politische Fhrerin, nicht ein "Adler der Revolution", sondern jene einsame Frau im Gef„ngnis, die solche Briefe schreiben konnte - das war mein ganz pers”nliches Bild von ihr. Erst viel sp„ter las ich in dem groáen vierb„ndigen Roman "November 1918", dass schon Alfred D”blin so empfunden haben muss, wenn er seine Rosa Luxemburg sagen l„sst: "Ich komme aus dem Staunen nicht heraus." 

Ein heiáes Leben

Als Rosa Luxemburg am 16. Mai 1898 nach Berlin kam, war sie eine junge 27j„hrige Frau. In Zamosc in Polen am 5. M„rz 1871 geboren, schloss sie sich frh der sozialistischen Bewegung ihres Landes an und geh”rte zu den Mitbegrnderinnen der polnischen sozialdemokratischen Partei. Wegen drohender politischer Verfolgung lebte sie einige Jahre in der Schweiz, wo sie Staatswissenschaften studierte und ihre Dissertation zum Thema "Die industrielle Entwicklung Polens" verteidigte. Um nach ihren Pl„nen in Berlin leben und ungehindert politisch arbeiten zu k”nnen, erwarb sie die preuáische Staatsbrgerschaft: Im Frhjahr 1898 ging sie eine Scheinehe mit dem Schriftsetzer Gustav Lbeck ein; 1903 erfolgte die Scheidung.
Rosa Luxemburg kam nach Berlin, um hier in der sozialdemokratische Partei aktiv zu sein. Schon nach wenigen Tagen schrieb sie ihrem damaligen Lebensgef„hrten, dem polnischen Revolution„r Leo Jogiches (1867-1919), den sie 1890 in der Schweiz kennen gelernt hatte, dass sie nicht in der Ecke sitzen k”nnte, w„hrend berall Versammlungen zur bevorstehenden Reichstagswahl stattf„nden. Sie traue sich durchaus ein Wahlreferat zu "nicht schlechter als Bebel; ich wrde gleich den h”chsten Ton anschlagen, d.h. den eines alten Genossen, der mit der Arbeit absolut vertraut ist und sich auf der Tribne wie in seinem Schlafzimmer fhlt." (Rosa Luxemburg an Leo Jogiches v. 22.5.1898. In: Rosa Luxemburg, Gesammelte Briefe, Band 1. Berlin 1982, S. 124 f.) Und tats„chlich wurde sie vom Parteivorstand im Wahlkampf eingesetzt; allerdings nicht in Berlin, sondern in Oberschlesien.
Von dieser Zeit an begann das rastlose Leben der Luxemburg. Wenn man die zwanzig Jahre betrachtet, die ihr bis zu ihrem gewaltsamen Ende zur Verfgung standen, dann muss man mit Hochachtung auf eine so umfangreichen Arbeitsleistung und ein derart intensives Leben blicken. Es ist nicht verwunderlich, dass das Leben und Wirken der Rosa Luxemburg immer wieder untersucht und beschrieben worden ist. (so z. B. Annelies Laschitza/Gnter Radczun: "Rosa Luxemburg. Ihr Wirken in der deutschen Arbeiterbewegung“, Berlin 1980; Ossip K. Flechtheim: "Rosa Luxemburg zur Einfhrung“, Hamburg 1985; Max Gallo: "Rosa Luxemburg. Eine Biographie“, Zrich 1993 ). Wie kaum an einem anderen Zeitgenossen lassen sich diese Jahrzehnte deutscher und europ„ischer Geschichte an der Pers”nlichkeit dieser Frau darstellen.
Ein Hauptfeld ihrer Aktivit„ten lag seit 1898 innerhalb der deutschen Sozialdemokratie. Von Anfang an hatte sie deutlich gemacht, dass ihr Platz bei den innerparteilichen Auseinandersetzungen dieser Zeit - insbesondere in den Debatten mit Eduard Bernstein und seinen Anh„ngern - auf dem linken Flgel war. Das brachte ihr natrlich nicht nur Freunde ein. "Trotz der merkwrdigen Aufnahme, der ich, wie andere Nichtdeutsche, nicht 'de la maison' (einheimische) Genossen, und zwar nicht bloá seitens der Opportunisten, begegnete, entzog ich mich doch bis jetzt keiner Gelegenheit, mir Prgel zu holen, und dachte nicht daran, mich, wenn auch nicht in den Schmollwinkel, so doch in den mir viel lieberen Winkel der ruhigen wissenschaftlichen Studien zu setzen!", schrieb sie wenige Jahre nach ihrer šbersiedlung nach Berlin an August Bebel (1840-1913) (Rosa Luxemburg an August Bebel v. 11.10.1902. In: Rosa Luxemburg, Gesammelte Briefe, Band 1, Berlin 1982, S. 648).
Erstaunlich war schon, wie schnell sich die junge Frau Freunde und Gegner in der Partei, die nun auf Jahre ihre politische Heimat sein sollte, verschaffte. Zu ihrem Freundeskreis geh”rten bald Franz Mehring (1846-1919) und seine Frau Eva, Clara Zetkin (1857-1933), Karl Kautsky (1854-1938) und seine Frau Luise. Sp„ter kamen Karl Liebknecht (1871-1919) und seine Frau Sophie hinzu. Auch ihr Verh„ltnis zum Parteivorsitzenden August Bebel war recht freundschaftlicher Natur. Allerdings „nderten sich manche dieser Beziehungen durch die Ver„nderung der politischen Standorte. Das trifft vor allem fr das Verh„ltnis zu Karl Kautsky zu. Bl„ttert man im Briefwechsel von Rosa Luxemburg mit Kautsky, so entdeckt man, wie aus der "hochgeehrten Redaktion" (1896) der "liebe Freund" (1900) und sogar der "liebste Karl" (1906) wird, um dann wieder bei dem sachlichen "an die Redaktion" (1915) zu enden.
Innerhalb der Sozialdemokratie bernahm Rosa Luxemburg die verschiedensten Aufgaben. Sie war als Redakteurin bei verschiedenen Parteizeitungen t„tig, trat auf den Parteitagen mit eigenst„ndigen Beitr„gen auf, geh”rte viele Jahre als Lehrerin der Parteischule in Berlin an und vertrat die Partei auch auf internationalen Zusammenknften. Stets ging sie dabei davon aus, dass im Zentrum aller Anstrengungen, aller praktischen Arbeit und auch aller taktischen Maánahmen der Kampf fr die Verwirklichung des Endziels stehen msse, n„mlich des revolution„ren Sturzes der kapitalistischen Gesellschaft. "Da wir mit der Entwicklung der Gesellschaft fortschreiten mssen, so ist ein best„ndiger Umwandlungsprozess auch in unserer Kampfesweise die Vorbedingung unseres Wachstums, dieser ist aber nicht anders als durch die unaufh”rliche Kritik unseres theoretischen Besitzstandes zu erreichen", schrieb sie 1899. "Alle Kritik, die unseren Klassenkampf zur Verwirklichung des Endziels kr„ftiger, klarer, zielsicherer macht, verdient den gr”áten Dank. Eine Kritik aber, die dahin strebt, uns zurckzuentwickeln, uns berhaupt zum Verlassen des Klassenkampfes und zum Aufgaben des Endziels zu bringen, diese Kritik ist nicht mehr ein Faktor des Fortschritts und der Entwicklung, sondern des Verfalls und der Zersetzung." (Rosa Luxemburg, Zum kommenden Parteitag. In: Gesammelte Werke, Band 1, Erster Halbband. Berlin 1972, S. 527)
So konsequent sich Rosa Luxemburg innerhalb der sozialdemokratischen Partei mit Auffassungen und Praktiken auseinandersetzte, die nach ihrer Meinung falsch waren oder der Partei schadeten, so energisch trat sie fr die Partei nach auáen ein. Ihr ”ffentliches Wirken beschr„nkte sich nicht nur auf ihre umf„ngliche publizistische Arbeit. Sie war eine gl„nzende Rednerin und trat auf den unterschiedlichsten Veranstaltungen in allen Teilen Deutschlands auf. Schon bald war sie in der ™ffentlichkeit als Repr„sentantin einer konsequent linken Position bekannt.
Auf internationaler Ebene geh”rte ihr besonderes Interesse natrlich der Entwicklung in ihrer polnischen Heimat und den revolution„ren Ereignissen in Russland. So hielt es sie nach dem Ausbruch der Revolution 1905 nicht mehr in Berlin. Unter falschem Namen reiste sie Ende des Jahres nach Warschau, wo sie jedoch schon nach wenigen Wochen verhaftet wurde. Erst im Sommer 1906 kam sie frei. Durch die Kontakte mit ihren polnischen Parteifreunden sowie mit Vertretern der russischen Sozialdemokraten, sowohl der Menschewiki als auch der Bolschewiki, gewann sie grndliche Einblicke in die Abl„ufe der revolution„ren Ereignisse, in die Methoden des Kampfes und in die unterschiedlichen Positionen der Beteiligten. In ihrer Schrift "Zur russischen Revolution“ schrieb sie ber ihre Sozialismusvorstellungen: "Weit entfernt, eine Summe fertiger Vorschriften zu sein, die man nur anzuwenden h„tte, ist die praktische Verwirklichung des Sozialismus als eines wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Systems eine Sache, die v”llig im Nebel liegt... Das ist kein Mangel, sondern gerade der Vorzug des wissenschaftlichen Sozialismus vor dem utopischen: Das sozialistische Gesellschaftssystem soll und kann nur ein geschichtliches Produkt sein, geboren aus der eigenen Schule der Erfahrung, in der Stunde der Erfllung, aus dem Werden der lebendigen Geschichte, die genau wie die organische Natur, deren Teil sie letzten Endes ist, die sch”ne Gepflogenheit hat, zusammen mit einem wirklichen gesellschaftlichen Bedrfnis stets auch die Mittel zu seiner Befriedigung, mit der Aufgabe zugleich die L”sung hervorzubringen...Nur ungehemmtes, sch„umendes Leben verf„llt auf tausend neue Formen, Improvisationen, erh„lt sch”pferische Kraft, korrigiert selbst alle Fehlgriffe. Das ”ffentliche Leben der Staaten mit beschr„nkter Freiheit ist eben deshalb so drftig, so armselig, so schematisch, so unfruchtbar, weil es sich durch Ausschlieáung der Demokratie die lebendigen Quellen allen geistigen Reichtums und Fortschritts absperrt.“ ((Zur russischen Revolution. In: Gesammelte Werke, Band 4, Berlin 1974, S. 359/360)
Bereits frhzeitig hatte sich Rosa Luxemburg mit dem Militarismus besch„ftigt. ?". In dem Maáe, wie sich in Europa die politischen Auseinandersetzungen versch„rften und die Kriegsgefahr wuchs, nahmen Umfang und Intensit„t der Besch„ftigung mit diesem Thema zu. "In dem Militarismus kristallisiert sich die Macht und die Herrschaft ebenso des kapitalistischen Staates wie der brgerlichen Klasse, und wie die Sozialdemokratie die einzige Partei ist, die ihn prinzipiell bek„mpft, so geh”rt auch umgekehrt die prinzipielle Bek„mpfung des Militarismus zum Wesen der Sozialdemokratie" (Rosa Luxemburg, Sozialreform oder Revolution?, In: Gesammelte Werke, Band 1, Erster Halbband. Berlin 1972, S. 456) Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges musste Rosa Luxemburg im Februar 1915 eine einj„hrige Gef„ngnisstrafe antreten, die sie noch vor dem Krieg wegen ihres Auftretens gegen Soldatenmisshandlungen erhalten hatte. Nur wenige Wochen nach ihrer Freilassung wurde sie im Juli 1916 erneut inhaftiert. Wie es in einem Schreiben des Oberkommandos der Marken vom 17. Juli 1916 hieá, sei ber die "bekannte radikal-sozialistische Agitatorin... im Interesse der ”ffentlichen Sicherheit bis auf weiteres die milit„rische Sicherheitshaft verh„ngt worden." (Vgl. Jrgen Lampe, Rosa Luxemburg. Berlin 1984, S. 41) Bis auf weiteres hieá in diesem Falle bis zum Ende des Krieges; denn erst mit der Novemberrevolution 1918 kam sie wieder auf freien Fuá.
W„hrend der vielen Monate im Gef„ngnis in Berlin, Wronke und Breslau arbeitete Rosa Luxemburg an der theoretischen und politischen Position der linken Kr„fte innerhalb der Sozialdemokratie, fr die seit der Zustimmung zu den Kriegskrediten und der Haltung zum Krieg durch die Mehrheit der sozialdemokratischen Fhrer eine neue Situation entstanden war. So entstand 1916 unter dem Pseudonym Junius ihre Broschre "Die Krise der Sozialdemokratie". Seit sie am 10. November 1918 wieder in Berlin war, begann eine Zeit intensivster Anstrengungen, um die revolution„re Entwicklung zu bef”rdern und zugleich den eigenen organisatorischen Rahmen fr die politische T„tigkeit zu schaffen. Gemeinsam mit Karl Liebknecht leitete sie Zeitung "Die Rote Fahne" und ver”ffentlichte hier fast t„glich ihren Standpunkt. Die Grndung des Spartakusbund innerhalb der USPD noch im November reichte den Linken um Liebknecht und Luxemburg nicht aus; Ende des Jahres kam es zum Grndungsparteitag der KPD, auf dem Rosa Luxemburg zum Programm der Partei sprach. Nur wenige Tage darauf, am 15. Januar 1919, wurde sie zusammen mit Karl Liebknecht ermordet.  

Kein "G”tzendiener des Sozialismus oder des Marxismus"

In ihren theoretischen Arbeiten widerspiegeln sich die vielf„ltigen Interessen, die Rosa Luxemburg antrieben. Natrlich drehte sich alles um den Marxismus, seine konsequente Anwendung, seine Verteidigung, aber auch seine Entwicklung und seine innere Selbstkritik. Auf der einen Seite ging sie davon aus, dass der Marxismus als lebendige Wissenschaft mit der sich ver„ndernden Wirklichkeit auch selbst ver„ndern msse. Auf der anderen Seite polemisierte sie gegen eine - nach ihrer Ansicht prinzipienlose - Revision des Marxismus a l  Bernstein. Diese Linie durchzieht alle ihre Arbeiten, vom kleinen Artikel ber die k„mpferische Broschre bis zum wissenschaftlichen Buch. ""In Marxens Geist ist die theoretische Erkenntnis nicht dazu da, um hinter der Aktion einherzugehen und fr alles, was von den 'obersten Beh”rden' der Sozialdemokratie jeweilig getan oder gelassen wird, einen rechtfertigenden Beruhigungsschleim zu kochen, sondern umgekehrt, um der Aktion der Partei fhrend vorauszugehen, um die Partei zur st„ndigen Selbstkritik anzustacheln, um M„ngel und Schw„chen der Bewegung aufzudecken, um neue Bahnen und weitere Horizonte zu zeigen, die in den Niederungen der Kleinarbeit unsichtbar sind.“ (Das Offizi”sentum der Theorie. In: Gesammelte Werke, Band 3, Berlin 1973, S. 318/319)
Als National”konomin wandte sie sich vor allem den ”konomischen Ver„nderungen in der kapitalistischen Gesellschaft zu und suchte nach genaueren Bestimmungen des sich auspr„genden Imperialismus. Hier sind vor allem ihr Buch "Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ”konomischen Erkl„rung des Imperialismus" aus dem Jahr 1913 sowie die erg„nzende Antikritik, eine Stellungnahme zu ihren Kritikern, die erst 1921 erschien, zu nennen. Damit geh”rte Rosa Luxemburg zu den wenigen marxistischen Autoren, die in dieser Zeit - also noch vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges - den Versuch unternahmen, zu einer Wesensbestimmung des Imperialismus vorzudringen. "Der Imperialismus ist ebensosehr eine geschichtliche Methode der Existenzverl„ngerung des Kapitals wie das sicherste Mittel, dessen Existenz auf krzestem Wege objektiv ein Ziel zu setzen. Damit ist nicht gesagt, daá dieser Endpunkt pedantisch erreicht werden muá. Schon die Tendenz zu diesem Endziel der kapitalistischen Entwicklung „uáert sich in Formen, die die Schluáphase des Kapitalismus zu einer Periode der Katastrophen gestalten.“ (Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ”konomischen Erkl„rung des Imperialismus. In: Gesammelte Werke, Band 5, Berlin 1975, S. 391/392)
In verschiedenen Arbeiten - von einem Kapitel fr Franz Mehrings Marxbiographie ber eigene Artikel zu Marx und ausfhrlichen Rezensionen zur Herausgabe Marxscher Werke - nahm Rosa Luxemburg zur Theorie von Marx, seinem Erbe fr die sozialdemokratische Bewegung und zur aktuellen Nutzung Stellung. Kleine Kostbarkeiten sind auch ihre Beitr„ge zu Schriftstellern wie Wladimir Korolenko (1853-1921), bei dem sie mit wenigen Worten die enorme Rolle der sch”ngeistigen Literatur charakterisiert: "Die russische Literatur war unter dem Zarismus wie in keinem Lande und zu keiner Zeit eine Macht im ”ffentlichen Leben geworden, und sie blieb ein Jahrhundert lang auf dem Posten, bis sie von der materiellen Macht der Volksmassen abgel”st, bis das Wort zum Fleisch ward. Die sch”ne Literatur war es, die dem halbasiatischen Despotenstaat einen Platz in der Weltkultur erobert, die vom Absolutismus aufgerichtete Chinesische Mauer durchbrochen und eine Brcke zum Westen geschlagen hatte, um hier nicht nur als Nehmende, sondern auch als Gebende, nicht bloá als Schlerin, sondern auch als Meisterin zu erscheinen. Man braucht nur die drei Namen Tolstoi, Gogol, Dostojewski zu nennen.“ (Einleitung zu Wladimir Korolenko: Die Geschichte meiner Zeitgenossen. In: Gesammelte Werke, Band 4, Berlin 1974, S. 303) Sie schrieb ber Adam Mickiewicz (1798-1855) und Gleb Uspenski (1843-1902) und natrlich ber Leo Tolstoi (1828-1910), von dem es bei ihr heiát:: "Tolstoi ist gerade darin vielleicht ein einziger in der Weltliteratur, daá bei ihm zwischen dem eigenen inneren Leben und der Kunst v”llige Identit„t besteht, die Literatur ist ihm nur ein Mittel, seine Gedankenarbeit und seinen inneren Kampf auszudrcken. Und weil diese unermdliche Arbeit und dieser Qualvolle Kampf den Menschen ganz erfllten und bis zu seinem letzten Atemzug nicht aufh”rten, deshalb ist Tolstoi der gewaltige Knstler geworden und hat der Quell seiner Kunst bis an sein Lebensende in unersch”pflichem Reichtum und immer gr”áerer Klarheit und Sch”nheit gesprudelt.“ (Tolstois Nachlaá. In: Gesammelte Werke, Band 3, Berlin 1973, S. 186)
In verschiedenen Publikationen finden sich auf Hinweise auf die Rolle des Intellektuellen in der brgerlichen Gesellschaft. So lieá sie sich nie auf eine "rein" theoretische Diskussion ein und attackierte jenen Gelehrtentyp innerhalb und auáerhalb der Sozialdemokratie, der seine Aufgabe darin sieht, "die Geschichte zu erkl„ren, indem er sie zerfasert, das soziale Leben zu beeinflussen, indem er sozialpolitische Einsicht tauben Ohren predigt, und die Wissenschaft in den Dienst des gesellschaftlichen Fortschritts zu stellen, indem er der herrschenden Reaktion dient." (Rosa Luxemburg, Im Rat der Gelehrten. In: Gesammelte Werke, Band 1, Zweiter Halbband, Berlin 1972, S. 382) Eindeutig sieht sie die Masse der Gelehrten auf der Seite der brgerlichen Gesellschaft und als Verteidiger der bestehenden Ordnung: "Gewiá, auch in Deutschland hat die offizielle Wissenschaft eine bestimmte positive Funktion zu erfllen. Die moderne Staatsmaschinerie ist nicht mehr so einfach wie die Verwaltung der Schafherden der Erzv„ter Abraham und Jacob, der Brokrat allein vermag das weitverzweigte Gebiet der sozialen Wirtschaft nicht zu beherrschen, und als natrliche Erg„nzung des Brokraten in der Kanzlei tritt der deutsche Professor auf dem Katheder hinzu, der theoretisierende Brokrat, der den lebendigen Stoff pflckt, nach brokratischen Gesichtspunkten umordnet und rubriziert und so abget”tet als wissenschaftliches Material fr die verwaltende und gesetzgebende T„tigkeit der Geheimr„te abliefert. Diese fleiáige Atomisierungsarbeit, die es erreicht, das Bild des sozialen Lebens wie in einem in tausend Splitter zertrmmerten Spiegel wiederzugeben, ist zugleich das sicherste Mittel, alle groáen sozialen Zusammenh„nge theoretisch aufzul”sen und den kapitalistischen Wald hinter lauter B„umen 'wissenschaftlich' verschwinden zu lassen." (ebenda, S. 388) An einen Intellektuellen stellt sie hohe Anforderungen, wenn sie schreibt:: "Zur bleibenden Wirkung, zur wirklichen Erziehung der Gesellschaft geh”rt mehr als Talent: dichterische Pers”nlichkeit, Charakter, Individualit„t, die im Felsgrund einer geschlossenen festen Weltanschauung verankert sind. " (Einleitung zu Waldimir Korolenko: Die Geschichte meiner Zeitgenossen. In: Gesammelte Werke, Bd. 4, Berlin 1974, S. 308)) Und wenn sie Leo Tolstoi wrdigt, umreiát sie verallgemeinernd die Position eines kritischen Intellektuellen, wie sie sie sich wnscht und vorstellt. "Wie bei allen Geistern dieser Art, liegt die St„rke Tolstois und das Schwergewicht seiner Gedankenarbeit nicht in der positiven Propaganda, sondern in der Kritik des Bestehenden. Und hier erreicht er eine Vielseitigkeit, Grndlichkeit und Khnheit, die an die alten Utopistenklassiker des Sozialismus, an Saint-Simon, Fourier und Owen, erinnern. Es gibt nicht eine von den hergebrachten geheiligten Institutionen der bestehenden Gesellschaftsordnung, die er nicht unbarmherzig zerpflckt, ihre Verlogenheit, Verkehrtheit und Verderblichkeit aufgezeigt h„tte. Kirche und Staat, Krieg und Militarismus, Ehe und Erziehung, Reichtum und Máiggang, physische und geistige Degradation der Arbeitenden, Ausbeutung und Unterdrckung der Volksmassen, das Verh„ltnis der Geschlechter, Kunst und Wissenschaft in ihrer heutigen Gestalt - alles unterzieht er einer schonungslosen, vernichtenden Kritik, und zwar stets vom Standpunkt der Grundinteressen und des Kulturfortschritts der groáen Masse." ((Tolstoi als sozialer Denker. In. Gesammelte Werke, Bd. 2, Berlin 1972, S. 248/49))
Die Verknpfung von grndlicher Analyse, theoretischer Bewertung und praktischen Konsequenzen bef„higte Rosa Luxemburg zu scharfsichtigen Einsch„tzungen und Voraussichten. Keineswegs ohne Fehler und falsche Schlussfolgerungen in ihren Arbeiten, konnte sie jedoch gerade auf ihrem ureigensten Feld, der theoretischen Durchdringung der revolution„ren K„mpfe ihrer Zeit, Positionen entwickeln, die sich in der Folgezeit gegen alle Verunglimpfungen und Abwertungen als richtig erwiesen haben. Das gilt natrlich - und aus heutiger Sicht in besonders aktuellem Maáe - vor allem fr die Konsequenzen der revolution„ren Entwicklung in Russland, die Rosa Luxemburg seit 1905 immer wieder ausgewertet und beschrieben hat. Der grunds„tzlichen hohen Einsch„tzung der russischen Revolution mit all ihren inneren und „uáeren Konsequenzen stellt sie zugleich die Notwendigkeit einer kritischen Sichtung der bisherigen Wege der Revolution zur Seite. Fr sie ist es selbstverst„ndlich, dass die Strategie der russischen Bolschewiki nicht als "erhabenes Muster" angesehen werden darf, fr das es dann nur kritiklose Bewunderung und eifriges Nachahmen g„be. In ihrer bekannten und immer wieder zitierten Kritik an der Diktaturtheorie von Lenin formuliert sie als Randbemerkung: "Freiheit nur fr die Anh„nger der Regierung, nur fr Mitglieder einer Partei - m”gen sie noch so zahlreich sein - ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden. Nicht wegen des Fanatismus der 'Gerechtigkeit', sondern weil all das Belebende, Heilsame und Reinigende der politischen Freiheit an diesem Wesen h„ngt und seine Wirkung versagt, wenn die 'Freiheit' zum Privilegium wird." (Rosa Luxemburg, Zur russischen Revolution. In: Gesammelte Werke, Band 4, Berlin 1974, S. 359 (FN)
Heute, da die sozialistische Bewegung mehr als eine bloáe Denkpause eingelegt hat, da man den Marxismus kaum noch als theoriewrdig ansehen m”chte, erscheinen die Ansichten der Marxistin und Revolution„rin Luxemburg wenig zeitgem„á. Aber was man auch ber und gegen diese Frau sagen mag, eines stimmt in keinem Falle: dass ihr Denken, ihr Leben und ihr Kampf antiquiert ist. Man braucht nur folgende Zeilen zu lesen, um zu wissen, dass der gesch„fte kritische Blick dieser Frau auch heute noch erstaunlich aktuelle Bezge aufdeckt: "Und wir selbst, berfliegen wir nicht mit gelangweiltem Blick jeden Tag die 'vermoschten Nachrichten' auf vorletzter Seite unserer Tageszeitung, diesen groáen Mllkasten, in dem der Abfall der brgerlichen Gesellschaft - Diebstahl, Mord, Selbstmord, Unfall - tagt„glich abgeladen wird? Gehen wir nicht in stumpfsinniger Ruhe an die Arbeit und von der Arbeit ins Bett?...
Und doch f„llt in jedem Augenblick irgendwo neben uns ein Opfer, unverschuldet, hilflos, verlassen, mit einem furchtbaren R„tsel im Herzen, mit einer schrecklichen Frage auf den Lippten, mit einem erstaunten, hoffnungslosen Blick auf dies millionenk”pfige und doch kopflose, mit Millionen Herzen schlagende und doch herzlose, Millionen Menschen umfassende und doch unmenschliche, taube, blinde Ungeheuer - die brgerliche Gesellschaft!" ((Nur ein Menschenleben, Gesammelte Werke, Bd.1, Erster Halbband. Berlin 1972, S. 469/70 )


E. Fromm