Gustav Landauer als Vordenker des Utopischen

"Das reine und groáe Herz Gustav Landauers wurde buchst„blich mit Fáen zertreten", schrieb der Philosoph Theodor Lessing (1872-1933) ber den gewaltsamen Tod eines Denkers, der als Repr„sentant des Anarchismus in den Wirren der Mnchner R„terepublik ein schreckliches Ende gefunden hat. Lessing ahnte beim Schreiben dieser Zeilen sicher nicht, dass ihn 1933 ein „hnliches Schicksal ereilen sollte, als er im tschechischen Exilheimtckisch ermordet wurde.

Im Sog der Krise

Gustav Landauer stammte aus einer jdischen Kaufmannsfamilie in Karlsruhe, wo er am 7. April 1870 geboren wurde. Zwischen 1888 und 1892 studierte er Germanistik und Philosophie, zuerst in Heidelberg, einige Zeit auch in Straáburg, vor allem aber in Berlin. Hier fand er Anschluss an den Friedrichshagener Knstlerkreis und lernte expressionistische und naturalistische Kunstkonzepte in ihrer Auseinandersetzung mit dem brgerlichen Kulturbetrieb und den vorherrschenden geistigen Str”mungen der Zeit kennen. Gemeinsam mit Knstlern dieses Kreises engagierte er sich fr die 1890 gegrndete "Freie Volksbhne" und gewann auf diesem Wege Kontakte zu verschiedenen Gruppierungen innerhalb der organisierten Arbeiterbewegung. Er schloss sich insbesondere dem "Verein Unabh„ngiger Sozialisten" an, einer oppositionellen Gruppierung, die 1891 aus der SPD ausgeschlossen worden war. Nachdem er in deren Zeitschrift "Der Sozialist" schon 1892 publiziert hatte, bernahm er von Februar 1993 bis 1897 die Redaktion dieses in Berlin beheimateten Blattes. Aber auch danach schrieb er noch bis zum Ende der Zeitschrift - "Der Sozialist" erschien letztmalig im Dezember 1899 - Beitr„ge fr dieses Blatt. Unter seinem Einfluss entwickelte sich die Zeitschrift zu einem Organ mit immer st„rker werdendem anarchistischem Ideengut. Neben eigenen Artikeln sttzte sich Landauer - der selbst auf Theorien Eugen Dhrings (1833-1921) zurckgriff - auf Arbeiten von Theodor Hertzka (1845- 1924) und Benedict Friedlaender (1866-1908). Bereits in der Nr. 14 (1893) sprach sich Landauer in dem Beitrag "Wie nennen wir uns?" offen fr den Anarchismus aus, "da zwischen dem freien Sozialismus und dem Anarchismus weder in prinzipieller noch in taktischer Hinsicht ein Unterschied besteht." Ab Juli erhielt "Der Sozialist" den Untertitel "Organ aller Revolution„re" und profilierte sich zum theoretischen Blatt des Anarchismus in Deutschland.

Landauer hatte 1892 in Zrich Martha Leuschner (1872-1908) geheiratet, mit der er bis zur Scheidung 1903 in Berlin lebte. Neben seiner Arbeit als Redakteur war er in diesen Jahren intensiv schriftstellerisch t„tig. 1893 erschien in Dresden sein Roman "Der Todesprediger" (eine Neuauflage kam 1978 in Wetzlar heraus), in dem er in Beziehung zu Nietzsches Passagen "Von den Predigern des Todes" in "Also sprach Zarathustra" die Wandlungen des Landgerichtsrates Karl Starkblom beschreibt, einer wohl autobiographischen Figur, die sich mit den -Ismen ihrer Zeit auseinandersetzt und eine Krisenzeit erlebt, in der "Abgelebtes und Vorzeitiges, Unreifes und Faules, Abgespanntes und Vorw„rtsstrmendes nebeneinander wohnte."
Der Einfluss Friedrich Nietzsches (1844-1900) ist in den wenigen belletristischen Arbeiten Landauers besonders sprbar, so in der Novelle "Arnold Himmelheber" (1894) und der Erz„hlung "Lebendig tot", die er im Tegeler Gef„ngnis schrieb, als er dort fr einige Monate - zwischen August 1899 und Februar 1900 - einsaá. šberhaupt besch„ftigte sich Landauer intensiv mit solchen Quellen, aus denen er Material fr eine theoretische Krisendiagnose gewinnen konnte: die Romantik, die mittelalterliche Mystik (Meister Eckhart, um 1260-1327 oder 1328), Johann Gottfried Herder (1744-1803) und Johann Gottlieb Fichte (1762-1814), Leo Tolstoi (1828-1910) und Oscar Wilde (1854-1900) und natrlich die frheren und modernen Repr„sentanten des Anarchismus Pierre Proudhon (1809-1865), Michail Bakunin (1814-1876) und Pjotr Kropotkin. Besonders intensiv war seine Beziehung zu Kropotkin (1842-1921), den er pers”nlich kennen gelernt hatte und dessen Arbeiten er bearbeitete und in Deutschland herausgab, so z. B. "Gegenseitige Hilfe in der Tier- und Menschenwelt" (1910) und die zweib„ndige Arbeit ber die Groáe Franz”sische Revolution von 1789 bis 1793, die Landauer 1909 aus dem Franz”sischen bersetzte. Und in der Schrift "Peter Kropotkin“ wurde das Menschenbild Landauers deutlich, wenn er schrieb: "Es waltet da ein seltsames Verh„ltnis der Gegenseitigkeit zwischen innerem Wesen und „uáeren Begegnungen, zwischen Charakter und Schicksal...
Dass fr uns dieses Eine, das unser Leben heiát, in diese scheinbar so v”llig getrennte Zwei auseinandergefallen ist: die „uáere Welt einerseits, die da Zufall der Geburt, der Verm”gens, der Freunde und Angeh”rigen, des Berufs, der Zeitereignisse, des Wetters, der Krankheiten und Unf„lle, der Begegnungen mit Menschen heiát, und unser inneres Wesen andrerseits, Charakter, Naturell, Temperament, Begabung, Neigung, Organisation oder wie man es nennen will, und dass doch, wenn's zum Schlusse kommt, all unser Leben so wird, dass wir, befriedigt oder gramzerfressen, ausrufen drfen: mea culpa oder meum opus! meine Schuld oder mein Werk, und daá als nochmalige Steigerung aber dann noch dazukommt, dass das kleine Individuum sich an diesem seinen Wesen unschuldig fhlt und Schuld oder Verdienst fr seine Anlage und Spannkraft wieder dem Weltganzen zuschreiben muss - dieses Hin und Her, diese Verflochtenheit, diese Identit„t und doch Nichtidentit„t des unendlich Kleinen mit dem unendlich Groáen macht das Wesen aller Tragik und aller Komik des Menschenlebens aus."

Die Arbeitsleistung Landauers in diesen Jahren ist enorm. Nachdem er sich aus der Redaktion des "Sozialist" zurckgezogen hatte, verdiente er sich seinen Unterhalt als Buchh„ndler und Theaterkritiker, als šbersetzer und durch Vortr„ge zu den verschiedensten Themen. Viele dieser Arbeiten entstanden sicher gemeinsam mit seiner zweiten Frau, der Lyrikerin und šbersetzerin Hedwig Lachmann (1865-1918), die er 1903 in Berlin heiratete und mit der in Hermsdorf bei Berlin und zuletzt in Krumbach in Bayern lebte. So bersetzten sie Werke von Walt Whitman (1819-1892), Bernhard Shaw (1856-1950) und Rabindranath Tagore (1861-1941). Die zweib„ndige Briefsammlung zur Franz”sischen Revolution von 1789 gilt noch bis heute als eine bedeutsame Quelle. Sein Freund und sp„terer Nachlaáverwalter Martin Buber (1878-1965) konnte nach dem Tode Landauers aus einem groáen Fundus eine Reihe von Arbeiten herausgeben: so die sprachanalytischen Untersuchungen "Skepsis und Mystik" (1923) oder zwei B„nde zu Shakespeare (1920).

Im ersten Jahrzehnt des neuen, zwanzigsten Jahrhunderts wandte sich Landauer wieder verst„rkt politischen Fragen zu. Er stritt gegen die imperialen Machtansprche, die die Welt immer gef„hrlicher werden lieá, kritisierte die sozialdemokratische Bewegung, die er fr unf„hig zur revolution„ren Aktion hielt und polemisierte gegen den Marxismus, den er als kalt, hohl und geistlos interpretierte. 1907 erschien sein Essay "Die Revolution", 1908 grndete er den "Sozialistischen Bund" und gab von 1909 bis 1915 die Zeitschrift "Sozialist" neu heraus. 1908 schrieb er den berhmten "Aufruf zum Sozialismus", der dann 1911 als Buch erschien. Darin heiát es: "Dies ist unser Sozialismus: ein Schaffen des Zuknftigen, als sei es ein von Ewigkeit her Gewesenes. Komme er nicht aus den Erregungen und wst reagierenden Heftigkeiten des Augenblicks, sondern aus der Gegenwart des Geistes, die Tradition und Erbe unseres Menschtums ist." Seine Auffassungen von den notwendigen Aktionen fr eine Ver„nderung der Verh„ltnisse verband er in zunehmendem Maáe mit Haltungen gegen den drohenden Weltkrieg. Als 1918 von der Polizei eine geheime Liste "der im Landespolizeibereich Berlin und Umgebung wohnhaften namhaften Pazifisten" aufgestellt wurde, stand auch Landauer - neben seinem Vetter Albert Einstein (1879-1955), dem Sozialdemokraten Eduard Bernstein (1850-1932), dem Sexualforscher Magnus Hirschfeld (1868-1935) und der Frauenpolitikerin Helene St”cker (1869-1943) - auf dieser Liste.
Im November 1918 rief ihn Kurt Eisner (1867-1919) nach Mnchen. Als der bayrische Ministerpr„sident am 21. Februar 1919 einem Attentat durch den Grafen von Arco auf Valley (1897-1945) zum Opfer fiel, hielt Landauer dem Freund die Totenrede, ohne zu ahnen, dass er nur wenige Wochen sp„ter fr sich selbst einen gleichen Freundesdienst ben”tigte. Denn als Volksbeauftragter fr Volksaufkl„rung der am 7. April ausgerufenen Mnchner R„terepublik, in der er gemeinsam mit Erich Mhsam (1878-1934), Ernst Toller (1893-1939) und Ernst Niekisch (1889-1967) wirkte, z„hlte er zu den ersten Opfern des konterrevolution„ren Terrors: Am 2. Mai wurde er im Mnchner Zentralgef„ngnis Stadelheim erschlagen. 

Utopische Vision

Gustav Landauer verk”rperte den Typ des theoretischen Anarchisten, wie er gerade fr Deutschland vor und nach dem Ersten Weltkrieg charakteristisch war. Fr ihn war der Geist jene Macht, ja Bewegung, die sich durch nichts in der Welt aufhalten l„sst. Er war ein Vertreter jener Intellektuellen im šbergang zum 20. Jahrhundert, die der groábrgerlichen Arroganz und imperialen Machtbesessenheit mit militanten antibrgerlichen Positionen und radikal anarchischen Forderungen gegenbertraten. Stets mehr ein Denkertyp denn ein politischer Fhrer oder Organisator, hatten ihn die nach praktischen Taten dr„ngenden anarchistischen Kreise seit Ende der neunziger Jahre an die Peripherie der Bewegung gedr„ngt. In den Revolutionswirren jedoch wurde er nicht nur in eines der Zentren der K„mpfe hineingezogen, sondern geh”rte auch zu den prominentesten Opfern; vielleicht auch deshalb, weil er die praktische Seite des Kampfes viel zu wenig kannte und der politisch motivierten und milit„risch organisierten Gewalt recht hilflos gegenberstand.
Landauer propagierte als Ziel aller Anstrengungen einen Sozialismus, dessen Aufgabe es sein msste, "das unsinnliche, absolutistische Christentum zu den Sinnen, zur Realit„t, zum ganz gemeinen Leben und dadurch zur Erfllung zu bringen", wie er in dem Aufsatz "Gott und Sozialismus" (1911) schrieb. Der Weg dahin besteht in der Verwirklichung einer im Menschtum angelegten Utopie. "Unter Utopie verstehen wir ein Gemenge individueller Bestrebungen und Willenstendenzen, die immer heterogen und einzeln vorhanden sind, aber in einem Moment der Krise sich durch die Form des begeisterten Rausches zu einer Gesamtheit und zu einer Mitlebensform vereinigen und organisieren, die keinerlei Sch„dlichkeiten und Ungerechtigkeiten mehr in sich schlieát", schrieb er in der Schrift "Die Revolution“. Sein Gesellschaftsideal war eine "brderliche Menschengemeinschaft", die man in einem historischen Prozess gezielt zu gestalten habe. Beschw”rend klingen seine Worte in der Schrift "Peter Kropotkin“: "Wollte die Wissenschaft mehr sein als eine Spielerei des Geistes, wollte sie das Werkzeug der Menschheit sein, so wie Verstand und Ged„chtnis und Sprache als Hilfsmittel jedes einzelnen Menschen ist, so musste vor allem andern die Menschheit aufh”ren, sich untereinander zu zerfleischen und sich selbst zu unterdrcken: der sozialen Ungleichheit und dem politischen Druck musste ein Ende gemacht werden, solidarische Gemeinden, ein einiges Volk, eintr„chtige und zusammenwirkende V”lker, die Menschheit als Wirklichkeit musste geschaffen werden." Mit diesen Ansichten, vor allem seinem Rckgriff auf die utopischen Potenzen der menschlichen Entwicklung, hat Landauer eine Reihe seiner Zeitgenossen beeindruckt und wohl auch beeinflusst. Zu denen, die daraus einen eigenen produktiven Denkansatz ableiteten, z„hlt der Philosoph Ernst Bloch (1885-1977) mit seinem Konzept einer "konkreten Utopie".
 

E. Fromm