Hier ist der Platz für Meinungsstreit zu generellen Problemen des Themas, zu einzelnen Texten, die auf der Homepage erschienen sind, zu neuen Veröffentlichungen, aber auch zu gemeinsam festgelegten Diskussionsthemen. Solche Themen könnten sein:

  • Wer oder was ist ein Intellektueller?
  • Kann man von Besonderheiten, spezifischen Zügen des deutschen Intellektuellen sprechen?
  • Wo liegt die Entstehungszeit des Intellektuellen, und welches sind die Bedingungen seiner Entstehung?

Denkbar sind auch Diskussionen zu bestimmten historischen Zeitetappen und der Haltung der Intellektuellen in solchen Zeiten wie der Revolution von 1848, dem Ersten Weltkrieg u.ä.

 

* * * * * *

Intellektuelle in Deutschland und Frankreich (Versuch eines Vergleichs)

Aus Frankreich erreichten mich Anfragen zur Intellektuellenproblematik, wobei im Mittelpunkt das Problem eines Vergleichs des Intellektuellen in Deutschland und Frankreich stand. Frau Magali Tarvidel-Lacombe von der Universität UNIVERSITE PAUL CEZANNE – AIX-MARSEILLE III ging es dabei um den konkreten Vergleich zwischen den Schriftstellern Alfred Döblin und Aras Ören und deren Berlin-Romane „Berlin lexanderplatz“ und Berlin Savignyplatz“ (Crise sociale et marginalité à Berlin au XXe siècle vues par les romanciers Alfred Döblin et Aras Ören)

Frau Julika Herzog von der Université Sorbonne-Nouvelle befasst sich übergreifender mit dem Intellektuellenbegriff und der Rolle des Intellektuellen im deutsch-französischen Vergleich („La notion de l’intellectuel et son rôle- une comparaison franco-allemande)

In den Anfragen ging es um mögliche Unterschiede zwischen den Intellektuellen in Deutschland und Frankreich, deren Gründe sowie um inhaltliche Themen, mit denen sich die Intellektuellen in beiden Ländern befassen.

In meinen Antworten wies ich eingangs darauf hin, dass ich mich in meinen Untersuchungen auf die Erforschung des Typs des deutschen Intellektuellen von seinen Anfängen bis in die Gegenwart beschränkt habe, weil es mir erstens nicht um eine allgemeine – und damit auch abstraktere – Betrachtung des Intellektuellen geht und weil eine Untersuchung zu den Intellektuellen in den verschiedenen Ländern eine kaum von einem einzelnen zu bewältigende Aufgabe darstellte. Daher musste ich einschränkend betonen, dass mir also eine gründliche eigene Analyse des Intellektuellen in Frankreich fehlt und ich somit auch keine exakte, ausreichende Antwort auf die Fragen nach den Ãœbereinstimmungen und Unterschieden zwischen den Intellektuellen in Frankreich und Deutschland geben konnte.

Als gesichert ist anzunehmen, dass die Entwicklung des Typs des Intellektuellen in den verschiedenen Ländern und Regionen im Grundsätzlichen deutlich übereinstimmt. Nach meiner Ansicht ist die Rolle, die ein Intellektueller zu spielen hat, ein zumindest zeitweise objektives Erfordernis und damit also international: Es ist die Rolle eines kritischen Aufklärers der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. In dieser Rolle unterscheiden sich der Intellektuelle in Deutschland und Frankreich, in Russland und in den USA, in China und in Japan nicht wesentlich. Und wenn sich diese Rolle verändert – und sie ändert sich über die Zeit tatsächlich - ,dann gilt das in der Regel für alle Länder des gleichen gesellschaftlichen Typs.

Der Intellektuelle, von dem wir hier sprechen , entsteht im Prozess der Herausbildung jener bürgerlichen Gesellschaft, die die immer stärkere Individualisierung als Trend ermöglicht, die auch den geistig unabhängigen Denker, Schriftsteller, eben Intellektuellen erst möglich macht. Insofern ist der Intellektuelle als Typ m.E. ein Produkt der europäischen Aufklärung: hier liegen seine geistigen Wurzeln, hier liegen seine wichtigsten Traditionen. Vor allem im 19. Jahrhundert, da die Widersprüche zwischen Geist und Macht immer schärfere Formen annehmen, da sich aber zugleich auch eine eigenständige Öffentlichkeit ausbildet, wächst der Bedarf an kritischen öffentlichen Stimmen, an Verteidigern der Menschenrechte, an deutlichen Haltepunkten für öffentliche Moral.

Es ist im gewissen Sinne symptomatisch, wenn Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Widerstand einer demokratischen Öffentlichkeit gegen die ungerechte Behandlung des Hauptmanns Dreyfus in Frankreich der Begriff des Intellektuellen in seiner modernen Bedeutung Einzug hält. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nahm der gesellschaftliche Bedarf an Intellektuellen dieses Typs eher zu denn ab. Ossietzky und Tucholsky sind Repräsentanten dieser Zeit, die geradezu als Fallbeispiele gelten könnten. Zur gleichen Zeit zeigen sich aber unter dem Druck verschärfter Widersprüche in Europa deutliche Veränderungen in der Rolle des Intellektuellen. Erstmals wird erkennbar, dass der Begriff des Intellektuellen durchaus nicht automatisch ein wie auch immer geartetes Verständnis von links bzw. progressiv beinhaltet; s kommt die Unterscheidung von Links- bzw. Rechtsintellektuellen auf.

Neu ist auch, dass mit der politischen und ideologischen Polarisierung im Vorfeld der faschistischen Entwicklung immer häufiger die Intellektuellen ihre betonte Unabhängigkeit aufgeben und Ahnlehnung oder direkte Partnerschaft bei politischen Kräftegruppierungen, Parteien usw. suchen - und auch finden. Nicht zuletzt beginnt in dieser Zeit in der Sowjetunion ein umfassender Prozess der Ausgrenzung - bis hin zur Liquidierung - , aber auch der Einbindung - bis hin zur Korruption - von Intellektuellen.

Nach 1945 setzen sich diese Trends verstärkt fort, bedingt durch die Polarisierung des Kalten Krieges und die Ausbildung der beiden feindlichen Blöcke. Für den Intellektuellen - ob nun in Ost oder West - wird es immer schwieriger, seine geistige Unabhängigkeit zu wahren, kritisch auf a l l e Entwicklungen zu reagieren und sich den Zugang zur Öffentlichkeit immer wieder neu zu erkämpfen. Unterdrückungsmaßnahmen und Konsumkorruption sind Praktiken, die in unterschiedlichster Weise angewandt werden - nicht immer ohne Erfolg. Immer lauter werden die Klagen über den Niedergang, über die Krise der Intellektuellen, immer gezielter werden aber auch die Attacken auf die Intellektuellen.

Verborgen hinter diesen Grabenkämpfen, an denen sich die Intellektuellen selbst immer massiver beteiligen, sodass man den Eindruck gewinnen muss, dass das Nachdenken über sich selbst wichtiger geworden ist als die Reflexion gesellschaftlicher Trends oder gar das Vordenken, vollzieht sich eine Veränderung, die lange Zeit wenig beachtet wird, für die Rolle des Intellektuellen aber von eminenter Bedeutung ist: Mit der weiteren Ausprägung demokratischer Verhältnisse entstehen für immer mehr Menschen neue Möglichkeiten und Formen der Beteiligung am politischen Leben, der Einflussnahme auf die öffentliche Meinung, des eigenen Engagements. Zugleich wächst und verändert sich die Funktion der Massenmedien: aus Instrumenten der Meinungsbildung und -beeinflussung durch unterschiedliche gesellschaftliche Kräfte, darunter eben auch durch die Stichworte der Intellektuellen als einer Art Vordenkertum, in denen der Zeitgeist und seine Kernprobleme besonders treffend erfasst sind, werden die Medien - vor allem Funk und Fernsehen - zu Machtgebilden mit eigenen Ansprüchen, Konzepten -, zumeist unter Ausgliederung der damit wenig verträglichen "unabhängigen" Positionen des einzelnen Intellektuellen.

Hier tritt ein Widerspruch auf, der sich bis in die Gegenwart weiterentwickelt hat: Je weniger reale Möglichkeiten der kritischen Einflussnahme für den Intellektuellen bleiben - soweit er außerhalb der Parteien u.ä. zu bleiben versucht -, desto stärker werden die mit dem Begriff "Anmaßung" umschriebenen Intentionen, Engagements, utopischen Modellvorstellungen. Die deutliche Einschränkung der Wirkungsmöglichkeiten des Intellektuellen als Zeitgeistverstärker und als kritisches Wegbegleiter in der Gesellschaft führte nicht dazu, dass die Intellektuellen den Kampf um verlorene Positionen aufnahmen. Vielmehr wich man in zunehmendem Maße auf ein Gebiet aus, auf dem man sich gut auszukennen meinte: die Bestimmung von Zielvorgaben, die Voraussage von Interessenlagen, das Ausmalen von Träumen - eben die Beschreibung von Visionen und Utopien

Überblickt man die historische Entwicklung des Intellektuellen, dann ist man m.E. berechtigt festzustellen, dass dieser soziale Typ historisch unter bestimmten Bedingungen und Voraussetzungen entstanden ist, dass sich seine Rolle in der Gesellschaft - sowohl im objektiven Sinn wie auch im Selbstverständnis - entwickelt und auch verändert hat, dass er Hoch-Zeiten und Krisenzeiten erlebt hat. Heute muss man von einer Situation ausgehen, in der es zu einem rigorosen Abbau zumindest der angemaßten Rolle des Intellektuellen kommt, wahrscheinlich aber zu einem tiefgreifenden Umbau seines Platzes in der Gesellschaft. Das muss nicht einhergehen mit der totalen Infragestellung der Wirkung des Intellektuellen, wie es heute vielfach behauptet wird. Aber die Gefahr, dass aus einem ernsthaften und ernstgenommenen kritischen Geist ein Narr wird, der sich in dieser Rolle auch noch gefällt, ist sicher real. So begann also bereits im 20. Jahrhundert eine Entwicklung, in deren Ergebnis aus dem Intellektuellen als einem Warner der Menschen wie einst Kassandra nunmehr ein von eben diesen Menschen belächelter oder bemitleideter Don Quichotte wird.

Gegenüber dieser allgemeinen Entwicklung des Intellektuellen seit dem 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart des 21. Jahrhunderts existieren natürlich nationale und historische Unterschiede zwischen den Intellektuellen; sie werden dadurch bestimmt, in welchem Umfang, in welcher Art und Weise diese Rolle wahrgenommen wird, kurz: mit was für einen Typ des Intellektuellen wir es zu tun haben. Bereits eine oberflächliche Betrachtung der Intellektuellen in Frankreich, in den USA, in Südamerika, in Russland etc. in ihrer historischen Entwicklung lässt das sichtbar werden. Das geht so weit, dass sich die Intellektuellen in Russland und Polen, in Frankreich und Spanien, in Japan und China, also in regional zusammengehörigen Gebieten, klar voneinander unterscheiden.

Allerdings gibt es Ausnahme, nämlich wenn man den Vergleich auf Einzelpersönlichkeiten begrenzt. Dann können diese Unterschiede verschwimmen. Vergleicht man z. B. Emile Zola und Heinrich Mann, wird man auf eine Vielzahl von Gemeinsamkeiten stoßen und kaum Unterschiede finden. Vergleicht man jedoch Emile Zola und Thomas Mann, kehrt sich das ganze um. Der Grund: Heinrich Mann war stark frankophil; Thomas Mann dagegen germanophil (wenn man diese Begriffe einmal so benutzen will).

Will man die Frage nach den Unterschieden zwischen den Intellektuellen in Frankreich und Deutschland beantworten, muss man die Ursachen solcher Unterschiede verdeutlichen. Sie liegen meines Erachtens in der jeweiligen politischen Geschichte, in der Kultur- und vor allem Geistesgeschichte sowie in der Eigenentwicklung der Gruppe der Intellektuellen seit dem 18. Jahrhundert.

Bereits die Aufklärung, die Etappe der Herausbildung des Intellektuellen, zeigt in beiden Ländern deutliche Unterschiede. In Frankreich vollzieht sie sich in einem einheitlichen Staat mit zentralistischer Struktur; ihre Repräsentanten haben mit Paris einen räumlichen Mittelpunkt und eine recht klare gemeinsame geistige Basis. In Deutschland entsteht die Aufklärung punktuell (Preußen; Berlin, Halle, Königsberg; Sachsen; Hamburg), hat es mit unterschiedlichen politischen Verhältnissen zu tun und trifft sofort auf eine starke Gegenaufklärung. Außerdem hat es die bürgerliche Aufklärung (vor allem in Preußen) mit einem aufgeklärten Absolutismus (Friedrich II.) zu tun, der sich der französischen Aufklärer bedient. In Frankreich kann man durchaus von einem gesellschaftlichen Sieg der Aufklärung sprechen; in Deutschland endet sie in Niederlagen, Auseinandersetzungen und letztlich der gesellschaftlichen Ablehnung. Das prägt den Intellektuellen in beiden Ländern, wie es an Persönlichkeiten wie Voltaire auf der einen, Kant auf der anderen Seite deutlich wird.

In der Folgezeit sind die Intellektuellen in Frankreich darum bemüht, die revolutionären Höhepunkte zwischen 1789 und 1848 ebenso zu verarbeiten wie die Etappe Napoleons, seiner Siege und Niederlagen, dann aber vor allem die demokratische Ordnung ihres Landes kritisch zu begleiten und gegen Entstellungen zu verteidigen.

Es ist interessant, dass bereits Ludwig Börne in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts die Unterschiede zwischen dem deutschen und französischen Intellektuellen – am Beispiel des Schriftstellers – charakterisierte: „Der erste (der deutsche ef) focht im Dunkeln, keiner war Zeuge seines Mutes und seiner Wunden, und alle seine Leiden wurden lebendig begraben. Der französische Schriftsteller, der Verfolgungen und Not litt, hatte ganz Paris zum Zeugen... Der französische Schriftsteller litt wie ein König im Kerker, den sein Feind, der ihn gefangen hielt in den Hungerturm sperrte; der deutsche hungert wie ein armer Tagelöhner. Der französische ging im Sturm unter, der deutsche ertrank in einem Mühlbache.“

Die Intellektuellen in Deutschland engagieren sich bis 1848 für eine demokratische Einigung des Landes – letztlich erfolglos; sie werden zu Kritikern des wilhelminischen Deutschlands, müssen sich mit der negativen Rolle Deutschlands in zwei Weltkriegen auseinandersetzen, mit zwei gewaltigen Niederlagen, mit der Schuldfrage an den Kriegen, am Faschismus, vor allem am Holocaust und geraten nach 1945 in die Situation eines gespaltenen Landes mit diametral entgegengesetzter gesellschaftlicher Entwicklung.

Nimmt man nun noch die Unterschiede in der geistesgeschichtlichen Entwicklung beider Länder und in der Entwicklung der Eigendynamik der Intellektuellen als sozialer Gruppierung, dann kann man wohl - mit aller Vorsicht und ohne eindeutige Forschungsergebnisse – feststellen:

Der Intellektuelle in Frankreich nimmt in wachsendem Maße einen geachteten Platz in der Gesellschaft ein, indem er die gesellschaftliche, politische und geistige Entwicklung kritisch analysiert, öffentlich Position bezieht und dabei die Verteidigung und die weitere Ausformung der Demokratie im Zentrum seiner Anstrengungen sieht. Bei allen Auseinandersetzungen um die Rolle des Intellektuellen und auch Angriffen auf sie ist sich der französische Intellektuelle seiner positiven Rolle in Geschichte und Gegenwart bewusst und daher selbstbewusst (und wird wohl auch in der Öffentlichkeit – zumindest überwiegend – so akzeptiert).

Der Intellektuelle in Deutschland konnte seine Rolle als kritischer Aufklärer von Anbeginn an meist nur in scharfer Kritik oder sogar durch Ablehnung der bestehenden Verhältnisse – gesellschaftliche Rückständigkeit, nationale Zerrissenheit – wahrnehmen und war so von Anfang an Anfeindungen und Verfolgungen ausgesetzt. Das setzte sich im Kaiserreich fort, erreichte in der Zeit des Nationalsozialismus einen Höhepunkt und erfuhr in der deutschen Spaltung nach 1945 eine neuartige Situation. Damit erhielt der deutsche Intellektuelle über die Geschichte hinweg bis in die Gegenwart in der Öffentlichkeit eine vorwiegend negative Bewertung, konnte selten gesellschaftliche Akzeptanz gewinnen. Die reale oder geistige Emigration – von Georg Forster über Heinrich Heine bis Thomas und Heinrich Mann – war ständiger Zustand. Das oft fehlende begründete Selbstbewusstsein sowie die häufigen Angriffe führten nicht selten zur Isolierung, zu überempfindlichen Reaktionen, zum Rückzug aus der Öffentlichkeit, aber auch zur Anpassung...

Bei den Themen, mit denen sich Intellektuelle befassen, existieren in beiden Ländern sowohl Ãœbereinstimmungen als auch Unterschiede. In den zentralen, übergreifenden internationalen und nationalen Themen besteht weitest gehend Ãœbereinstimmung. Das betrifft solche Probleme wie Krieg und Frieden, Armut in der Welt, Geist und Macht, Macht- und Besitzmissbrauch, Kampf gegen Rassismus und Antisemitismus u. ä. Bereiche. Darüber hinaus war und ist der Intellektuelle in Deutschland gezwungen, sich mit spezifischen Problemen auseinander zu setzen. Das betrifft die Frage der Schuld bzw. Mitschuld am Faschismus, Krieg und Holocaust, das Problem der Einheit der Nation und – von besonderem Gewicht – die Verantwortung und Haltung des Intellektuellen in der Diktatur. Dass sich die Intellektuellen in Deutschland auf solche Fragen konzentrieren, hängt eindeutig mit den Besonderheiten der Entwicklung in Deutschland zusammen.

Wenn man danach fragt, woher denn eine gewisse erkennbare deutsche Eigenart des Intellektuellen kommt, so würde ich sie gegenwärtig so beschreiben:

Es handelt sich dabei um eine Wechselwirkung zwischen der historischen Entwicklung Deutschlands und dem Prozess der Herausbildung und Etablierung des Intellektuellen.

Dabei ist am Ende des 20. Jahrhunderts die Diskussion um den Intellektuellen neu entbrannt, wofür es vor allem zwei Gründe gibt. Zum ersten wurde spürbar, dass das Tempo der gesellschaftlichen Veränderungen die Intellektuellen offensichtlich überforderte, sie sprachlos werden ließ, worauf Äußerungen wie "Die Geschichte raste, und die Intellektuellen traten auf der Stelle" oder "die Avantgarde der deutschen Intellektuellen wurde zur Nachhut" hindeuten. Ob es sich tatsächlich um ein Versagen der Intellektuellen handelt, muss noch gründlich geprüft werden. Fest steht jedoch, dass die Intellektuellen insgesamt über einen Rollenwechsel nachzudenken haben, um einen gewichtigen Platz bei einer gründlichen Reflexion über diese Veränderungen einzunehmen oder einen solchen Platz auf längerer Zeit bzw. für immer zu verlieren.

Zum zweiten ist eine Klärung der Rolle der Intellektuellen in der DDR notwendig, allerdings ohne Verdächtigungen, Anschuldigungen oder Verurteilungen. Generell geht es darum, nach den Existenzbedingungen und Wirkungsmöglichkeiten der Intellektuellen im System des "realen Sozialismus" zu fragen und an den unterschiedlichen Biographien aufzuarbeiten. Das reicht von Bertolt Brecht und Anna Seghers bis Stefan Heym und Christa Wolf, von Harich bis Havemann.

Für die Art und Weise, wie der Intellektuelle in Deutschland seine Rolle als Intellektueller wahrnimmt, spielen möglicherweise bestimmt Charaktereigenschaften eine wichtigere Rolle als in anderen Ländern. Wenn man sieht, wie z. B. Theodor Mommsen gegen Bismarck, Thomas Mann gegen Hitler, Heinrich Böll gegen Adenauer standen, gegen Personen, die nicht nur über Macht verfügten, sondern in den Augen der Mehrheit zu ihrer Zeit anerkannt und angesehen waren, so belegt das den Mut, der dazu gehört, die eigene Person derart öffentlich einzubringen und die durch eigene Leistungen erworbene Autorität aufs Spiel zu setzen. Für die Intellektuellen dieses Typs gilt auch, dass sie ihren Überzeugungen treu bleiben, sich nicht einschüchtern lassen und in ihrem Engagement auch dann nicht nachlassen, wenn ein unmittelbarer Erfolg kaum in Sicht ist. Allerdings scheint es zu Merkmalen dieses Typs zu gehören, dass in zunehmendem Maße, je älter das 20. Jahrhundert wurde, die pessimistischen Züge zunahmen und eine Tendenz von der Ironie hin zum Zynismus erkennbar wurde

Wenn ich von der Fragestellung ausgehe, ob denn die deutschen Intellektuelle auch heute noch Eichmeister geistiger Maßesind oder nicht nur Narren in einer maßlosen Zeit, dann komme ich zu der Einschätzung, dass der Intellektuelle in Deutschland vom ausgehenden 19. bis zum beginnenden 21. Jahrhundert in verschiedenen Typen in Erscheinung getreten ist und dass er immer darum bemüht war, als ein solcher „Eichmeister der Maße“ zu wirken, wie sie die menschliche Gesellschaft für ihre humane Existenz benötigt; dass man aber zugleich erkennen muss, dass die Gesellschaft diese Rolle des Intellektuellen immer weniger honoriert und so die reale Gefahr besteht, dass er zum Narren in einer Gesellschaft wird, in der die Maße immer mehr verloren gehen.


 

*  *  *  *  *  *

JOCHEN GRÃœNWALDT:

Der Sozialtypus des Intellektuellen als gesellschaftliches Problem

Als Intellektuellen bezeichnet man jemand, der allgemeine Probleme selbstständig durchdenkt und die Ergebnisse seines Denkens dann der Öffentlichkeit in der Absicht zur Kenntnis gibt, dass diese sich (weil er seine Denkergebnisse für unwiderlegbar richtig hält,) danach richtet.

Solch eine Sozialfigur ist für die Gesellschaft nicht unproblematisch. Problematisch ist zum Beispiel, wenn der Intellektuelle die Umsetzung seiner Ideen selbst in die Hand nimmt. Es gibt nicht wenige Beispiele dafür, dass gesellschaftliches Handeln von Intellektuellen bzw. das Realisieren intellektueller Theorien und Konzepte zum Chaos führte. Nicht zuletzt die Geschichte der linken Bewegung ist voll davon.

Was Intellektuelle anrichten können, wenn sie Gelegenheit erhalten, ihre Gedanken zu verwirklichen, zeigt aber beispielsweise auch das Wirken Luthers. Der Mann hatte offenbar höchstens zu Beginn seines Wirkens eine Zielvorstellung, die Wiederherstellung des (früheren) reinen Glaubens nämlich. Er wollte zurück ins Mittelalter. Das heißt, er durchschaute nicht das systemsprengende revolutionäre Potenzial eines Teils seiner Ideen.

Als dieses ihm dann eigentlich klar geworden sein musste, durchdachte er offenbar nicht oder nur unzureichend die Folgen dessen, was er vertrat. Er hatte höchstens Bruchstücke eines Zukunfts-Konzepts, wurde getrieben von der Entwicklung, die er ungewollt ausgelöst hatte, statt diese zu bestimmen.

Das „Hier-stehe-ich,-ich-kann-nicht-anders“ ist also nichts weniger als bewundernswert. Es ist vielmehr das lächerliche Eingeständnis einer Hilflosigkeit, weil derjenige, der dies von sich gibt, damit ungewollt ausdrückt, dass er nicht in der Lage ist, seine Ãœberzeugungen mit den Bedingungen der Wirklichkeit zu vermitteln. Wenn ein solcher Mensch dann trotzdem in das Weltgetriebe eingreift, ist dies höchst verantwortungslos. Die erwartbaren Folgen sind (wie bei Luther) Zusammenbruch und Chaos.

Das Denken des Intellektuellen ist nämlich in der Regel durch Lebensferne gekennzeichnet. Ein Intellektueller kennt die Probleme, die er durchdenkt, oft nur theoretisch. Das hat zwar den Vorteil, dass er sie aus der Distanz betrachtet und deshalb emotionsloser und auch umfassender sieht als die unmittelbar davon Betroffenen. Zugleich fehlt ihm aber der direkte Zugang zu ihnen, das Erlebnis der Problematik; er hat sie oft nicht persönlich erfahren.

Das liegt nicht zuletzt an der für Intellektuelle typischen Sozialisation. Sie unterscheidet sich von der der meisten seiner Mitbürger. Der typische Intellektuelle wächst im Bildungsmilieu auf, besucht jahrelang Bildungseinrichtungen, wo er zunehmend vor allem Kontakt mit Theoretikern oder deren Hervorbringungen hat. Diese Art der Sozialisation prägt seine Weltsicht entscheidend. Sie entfernt ihn aber dadurch zugleich innerlich von der Masse seiner Mitbürger.

Da er sich überwiegend mit Geistigem beschäftigt, meint der Intellektuelle, dass das Geistige die Welt bestimmt. Er ist in diesem Sinne Idealist, glaubt an die Kraft der Logik. Wer richtig denkt, meint er, handelt auch richtig. Folglich kommt es nur darauf an, die richtigen Gedanken zu verbreiten und die Verbreitung der falschen zu verhindern. Dann wird die Welt gut oder zumindest besser. Und er sieht es als seine Bestimmung an, dass dies geschieht. „Aufklärung“ hält er für seine Lebensaufgabe.

Seine Weltsicht wird aber nicht nur durch seine Art der Verarbeitung der Welt, seine grundsätzliche Haltung zur Wirklichkeit bestimmt. Er ist ja (trotz seines forcierten Individualismus) auch ein soziales Wesen, ist Mitglied einer bestimmten sozialen Gruppe und hat als solcher gruppenspezifische Interessen, vertritt eine Gruppenideologie. Freiheit des Wortes oder der Kunst sind Geistesarbeitern, die an der ungehinderten Verbreitung ihrer Arbeitsergebnisse interessiert sind, logischerweise ungleich wichtiger als die Verwirklichung von möglichst viel Gleichheit, die tendenziell eher des Masse der Bevölkerung als ihnen zu Gute kommen würde.

Solche gruppenspezifischen Ansichten gehen natürlich in die Beurteilung von Problemlagen und die Ausarbeitung von Alternativvorschlägen ein. Diese sind also, entgegen ihrem immanenten oder gar klar formulierten Anspruch durchaus nicht allgemein nützlich, das heißt: für alle gleich gut, gleich vorteilhaft. Sie dienen nicht selten, zumindest etwas, auch einem Gruppeninteresse.

Ein gutes Beispiel dafür, dass Problemlösungs-Vorschläge von Intellektuellen mehr deren Gruppen-Interesse als dem der gesellschaftlichen Mehrheit dienen, ist das Verhalten vieler Intellektueller der ehemaligen DDR in der Umbruchszeit 1989/90. Während die meisten DDR-Bürger die sofortige Vereinigung des bisher kommunistisch beherrschten deutschen Staatsgebiets mit der Bundesrepublik forderten, plädierten fast alle DDR-Intellektuellen für einen dritten Weg, für eine nichttotalitäre, aber sozialistische DDR.

Nun wäre zwar aus wirtschaftspolitischen Gründen eine langsame, schrittweise Angleichung der Strukturen der DDR an die der BRD, wie sich herausgestellt hat, unbedingt sinnvoll, gewesen. Wahrscheinlich wäre es dann nicht zum Beispiel zu dem eingetretenen Kahlschlag im Bereich der industriellen Produktion Ostdeutschlands gekommen. Doch diesen zu verhindern war nicht zuvörderst das Anliegen derjenigen DDR-Intellektuellen, die sich für einen liberalen sozialistischen Staat einsetzten. Sie wollten nicht endlich in den Westen reisen, endlich mit Westgeld Bananen einkaufen können. Dies konnten sie nämlich, aufgrund der ihnen zugestandenen Privilegien, in einem gewissen Umfang bereits vorher.

Sie mussten aber fürchten, dass sie durch eine schnelle Angliederung der DDR an die Bundesrepublik nicht nur ihre bisherigen Vorrechte, sondern sogar ihren sozialen Status als zwar kritische, aber letztlich in das gesellschaftliche System der DDR integrierte geistige Elite verlieren würden und aufgrund ihrer mehr oder weniger großen bisherigen Verflochtenheit mit dem Gesellschaftssystem der DDR es dann schwer hätten, in der Bundesrepublik wieder zu d e m Ansehen und Einkommen zu kommen, das dem früheren in der DDR auch nur halbwegs entsprach. Insofern war ihr Eintreten für ein sozialistisches, aber liberales Ostdeutschland nicht nur, vielleicht sogar nicht zuerst der Kampf um eine wünschbare Utopie, deren Verwirklichung das Beste für die überwiegende Mehrheit der Deutschen gewesen wäre. Es entsprach völlig ihrem Gruppen-Interesse.

Trotzdem trugen sie ihr Konzept für die Neuordnung der politischen Verhältnisse in Deutschland wie üblich so vor, als sei dessen Verwirklichung das einzig Wünschbare für alle. Der Intellektuelle glaubt nämlich in der Regel an seine Unfehlbarkeit. Ihm kommt nur selten der Gedanke, dass seine Sicht der Dinge einseitig oder (weil er nur begrenzte geistige Kräfte hat) sogar falsch sein könnte. Er glaubt vielmehr, dass es Menschen gibt, die aufgrund besonderer geistiger Gaben das für alle Richtige erkennen können und deshalb einen geistigen Führungsanspruch haben. Er hält sich also (wenn auch nicht immer bewusst, so doch faktisch) für das, was die Dichter des 18.Jahrhunderts ein Genie nannten.

Der Glaube an die eigene Genialität ist durch nichts begründet. Er wird aber gestützt durch die Bereitschaft vieler, an die Genialität einzelner glauben zu wollen. Jemand, der weiß und einem sagt, was richtig und was falsch ist, nimmt einem die nur schwer erträgliche Unsicherheit bei Entscheidungen ab. Dieser Glaube an seine Unfehlbarkeit bestärkt denjenigen, der sich zur geistigen Führung berufen fühlt, in seiner Rolle. Und ein solcher Glaube kennzeichnet den typischen Intellektuellen.

Seine felsenfeste Überzeugung von der Richtigkeit dessen, was er vertritt, ist andererseits wesentlicher Grund seiner gesellschaftlichen Wirkung. Wer keine Zweifel hat, reißt andere mit.

Dies unter anderem erklärt wohl, warum Hitler nicht wenige Menschen so faszinierte, warum sie an das, was er sagte, so inbrünstig glaubten. Hitler war ein typischer Intellektueller. Er hatte (auch wenn viele seiner Gegner das bis heute nicht wahrhaben wollen) eine in sich schlüssige Ideologie, eine formelhafte Welterklärung, und die Menschen ließen sich nicht zuletzt deshalb von deren Richtigkeit überzeugen, weil Hitler selbst davon so unerschütterlich überzeugt war.

Dass das politische Handeln auf der Grundlage dieser Ideologie zu Terror führte, geschah dann aber nicht zufällig Es war die logische Konsequenz solcher Art von politischem Handeln. Die Verwirklichung einer Ideologie führt letztlich immer zu politischem Terror, weil jede Ideologie immanent terroristisch ist. Sie ist durchdrungen von der Überzeugung ihres Produzenten, dass sie die einzig richtige Sichtweise darstellt. Deshalb muss der Wahrheit zum Durchbruch verholfen und alles Falsche aus der Welt geschafft werden, und dies geht letztlich nur mit Gewalt.

Die intellektuelle Sicht der Welt ist immanent terroristisch, weil sie eine quasi ästhetische Weltinterpretation darstellt. Das Kunstwerk lässt ja eine subjektive Sicht als allgemeingültig erscheinen. Perspektivisch Richtiges wird in der ästhetischen Präsentation als richtige Darstellung der Totalität, das heißt als Wahrheit empfunden. Wer also etwas formuliert, was er für die Wahrheit hält, der produziert ein ästhetisches Gebilde, etwas in sich Harmonisches. Und alles, was dazu nicht passt, stört den Genuss dieser Harmonie. Da dies aber all die Elemente der Wirklichkeit tun, die in der Ideologie keine erklärende Berücksichtigung finden, müssen solche Elemente eliminiert, muss die Wirklichkeit, welche die ästhetische Harmonie der Theorie in Frage stellt, dieser Theorie angepasst werden. Und dies ist in der Regel ohne Gewaltanwendung nicht möglich.

Der Ästhetizimus ideologischen Handelns lässt sich am politischen Handeln der Nazis sehr gut studieren. Nicht nur, dass die Nazis bei ihrer Selbstdarstellung überdurchschnittlich viel Wert auf Ästhetik legten. Für die Eroberung neuen Lebensraums und die Vernichtung der Juden gab es auch keine aus der Betrachtung der Realität logisch resultierenden Gründe. Die Macht eines Staates basierte 1939 schon längst nicht mehr auf der Menge des für die Ernährung der Bevölkerung zur Verfügung stehenden Bodens. Und die europäischen Juden befanden sich in einem fortgeschrittenen Stadium der Assimilisation, stellten also keine irgendwie geartete Gefahr für die deutsche Gesellschaft dar oder beeinträchtigten das friedliches Zusammenleben der Deutschen mit den osteuropäischen Nachbarn.

Die Judenvernichtung geschah also aus ästhetischen Motiven. Die Juden passten nicht in eine rassisch homogene Gesellschaft. Eine Gesellschaft, der sie angehören, konnte man nicht als eine harmonische Einheit genießen, Folglich mussten sie daraus eliminiert werden.

Adorno ist in gewisser Weise die radikalste Verkörperung der Sozialfigur des Intellektuellen. Die aufgrund seiner Herkunft und seines Lebenslaufs entstandene soziale Vereinzelung ist nicht mehr steigerbar. Zugleich stellt Adorno aber durch sein Verhalten und sein Werk die potentielle Funktion des Intellektuellen in Frage. Mit großer Überzeugungskraft führte er zum Beispiel seinen Studenten vor Augen, wie schlecht die Welt ist, in der sie leben. Als diese ihn dann aber zur Teilnahme an einer politischen Aktion gewinnen wollten, die jedenfalls ein klein bisschen an diesem Zustand ändern sollte, verweigerte er sich.

Es ist natürlich honorig, dass Adorno nicht eine Verantwortung übernahm, die er offenbar nicht übernehmen konnte, weil er die Konsequenz seines Handelns nicht zureichend übersah. Doch welchen Sinn hat eine Theorie, die für die Praxis nicht taugt, der man einen Praxistest nicht zutraut?

Adornos Denken zielt jedoch offenbar auch gar nicht auf praktisches Handeln. Adorno kritisiert das Vorhandene, seien es die gesellschaftlichen Phänomene oder Strukturen, seien es die philosophischen Gedanken oder Systeme seiner Vorgänger. Eine Alternative gibt es bei ihm jedoch noch weniger als bei Karl Marx, der immerhin solch auslegbare Schlagwörter wie „Diktatur des Proletariats“ als Zukunftsbeschreibungen hinterlassen hat. Oft hebt sich Adornos Kritik durch ihre innere Widersprüchlichkeit sogar selbst auf. Sie kritisiert sich selbst und bekommt dadurch einen absurden Charakter. Jemand kritisiert etwas und nimmt diese Kritik, indem er deren Voraussetzungen kritisiert, sozusagen im gleichen Atemzug wieder zurück. Anders als offenbar viele Adorno-Jünger meinen, liefert solch ein Denken nicht nur keine eindeutigen Handlungsanweisungen, sondern nicht einmal Erkenntnisse, von denen man als unumstößlich ausgehen, auf denen man also geistig fußen kann.

Damit zerstört Adorno die potenzielle gesellschaftliche Funktion des Intellektuellen. Die von Adorno angebotenen Alternativen haben etwas Unernsthaftes, Beliebiges: Sie werden mit einem geistigen Vorbehalt vorgetragen und daher nicht als tatsächlich vorhandene, sondern nur als scheinbare Alternativen wahrgenommen, als Gedankenspiele, die nicht ernst gemeint sind. Damit wird der Intellektuelle von einem besorgten Mahner zu einem geistigen Gaukler, der vielleicht unterhält, dessen Gedanken aber nicht von gesellschaftlicher Relevanz sind.

Adornos Schriften konnten jedoch eigentlich nicht einmal diese Funktion erfüllen, weil sie aufgrund der Widersprüchlichkeit der darin vorgetragenen Gedanken außerordentlich schwer verständlich sind. Adornos Werk ist also ein geistiges Werk, das sich selbst ad absurdum führt, das die bisherige Funktion des Intellektuellen aufhebt.

All dies ist sicherlich mit der Biografie des Autors erklärbar, aus ihr heraus verständlich. Ein durch eine erzwungene Flucht aus allen sozialen Zusammenhängen herausgerissenes Individuum schlägt wild um sich, greift alles an, hat dabei aber zugleich das Bewusstsein, dass ihm niemand zuhört und dass es deshalb nicht nur egal ist, was es sagt, sondern sogar, ob es etwas sagt. Selbst wenn Adorno im reifen Alter ein immer größer werdendes Forum für das fand, was er zu sagen zu haben meinte, sein Werk ist offenbar geprägt von der Grunderfahrung der völligen sozialen Isolation.

Dadurch ist es zwar einerseits für die Gesellschaft nicht direkt von Nutzen, ermöglicht andererseits aber erhellende Einsichten in den Zusammenhang von Gesellschaft und Intellektualität und die gesellschaftliche Funktion der Intellektuellen.

Adornos Zerstörung des Intellektuellen-Nimbus ist also in gewisser Weise verdienstvoll. Sie hat aber bisher selbstverständlich nicht zu einem Verschwinden der Sozialfigur des Intellektuellen geführt und dies wird auch in Zukunft nicht geschehen. Intellektuelle wird es wahrscheinlich so lange geben, wie individuelles Denken nicht gesellschaftlich verpönt oder gar verboten ist.

Und das ist auch gut so. Eine Gesellschaft braucht Intellektuelle. Sie sind der Stachel im Fleisch, das Instrument, das Fehlentwicklungen anzeigt und durch das Bereithalten von Alternativen zum Bestehenden die Zufriedenheit damit nicht absolut werden lässt.

Problematisch wäre jedoch die gesellschaftliche Dominanz der Intellektuellen. Eine Verwirklichung von Platons Vision einer Herrschaft der Philosophen ist alles andere als wünschenswert. Die Intellektuellen würden nicht zuletzt ihre eignen (Minderheits-) Interessen verfolgen und nicht vor allem die Interessen der Mehrheit der Bevölkerung. Außerdem würde sich ihre Herrschaft vermutlich sehr schnell zu einem Terror-Regime entwickeln.

Trotzdem sollten die Intellektuellen, mein ich, ihre gesellschaftliche Funktion behalten. Der Umgang mit ihren Meinungen und Theorien darf jedoch nicht von Ehrfurcht bestimmt sein. Wer sich damit auseinandersetzt, sollte also die Ergebnisse ihres Nachdenkens nicht für "der Weisheit letzter Schluss" halten, sondern für individuelle Ansichten, deren Kennzeichen immer Einseitigkeit und menschliche Begrenztheit sind.

Die Intellektuellen aber sollten einsehen, dass ihre Theorien um so richtiger sind, je mehr Menschen sie davon mit Gründen überzeugen können.

 

* * * * * *

Zum Diskussionsbeitrag von Jochen Grünwaldt „Der Sozialtypus des Intellektuellen als gesellschaftliches Problem“

Mit dem Beitrag von Jochen Grünwaldt ist die Diskussion um den „deutschen Intellektuellen“ im Rahmen der Website von Eberhard Fromm eröffnet worden, was begrüßenswert ist. Und die in diesem Beitrag vorgestellte Position fordert zur Diskussion heraus. Der Sozialtypus des Intellektuellen scheint, wenn man diesen Beitrag liest, wirklich ein Problem zu sein – jedoch weniger ein gesellschaftliches, sondern eins im Denken von Gesellschaftswissenschaftlern.

Der Ausgangspunkt des Beitrags ist eine meines Erachtens vereinfachte Begriffsbestimmung des Intellektuellen, die zu Fehlinterpretationen in diesem Fall historischer Persönlichkeiten führt. Allgemeine Probleme durchdenken und sie dann öffentlich machen, das kann auch ein Politiker. So ist hier bereits die Basis für die Auffassung, dass Hitler ein Intellektueller wäre. So hat beispielsweise Sebastian Haffner in seinen „Anmerkungen zu Hitler“ überzeugend herausgearbeitet, dass diesem Mann Bildung und Beruf fehlten, wenn man von seinen Erfahrungen als Frontsoldat absieht. Er hatte Organisationstalent und in den ersten Jahren nach der Machtübernahme bestimmte wirtschaftliche und militärpolitische Leistungen vollbracht. Sie berechtigen jedoch nicht einmal, von ihm als einen Staatsmann zu sprechen, geschweige denn ihn als Intellektuellen zu klassifizieren. Er gehörte nicht zur Intelligenz, vertrat in der Beziehung von Macht und Geist die Macht und nicht den Geist. Er war nicht das kritische Gewissen der Gesellschaft, sondern ihr Zerstörer. Er mahnte nicht menschliche Werte an, sondern verachtete sie. Er hatte keine moralische Grundhaltung. Der Massenmörder Hitler war der ausgesprochene Feind alles Intellektuellen.

Andererseits wird bei Grünwaldt einem hervorragenden Intellektuellen die geistige Basis seiner Leistung entzogen – so erscheint Martin Luther als „Verursacher von Zusammenbruch und Chaos“. Damit wird man seiner historischen Leistung absolut nicht gerecht. Der Begründer des deutschen Protestantismus hatte zweifelsohne in seinem Handeln manche Inkonsequenz aufzuweisen, unterlag manchem Irrtum. Aber war er deswegen hilflos und verantwortungslos? Eine derartige Sichtweise negiert die revolutionäre Kritik des Reformators an der seinerzeit vorherrschenden Kirchenlehre und auch seinen Beitrag zur Herausbildung einer einheitlichen deutschen Sprache – um nur einige Verdienste zu nennen.

Grünwaldts Position zum Intellektuellen ist negativ-pessimistisch und nicht ausgewogen: entweder werden historische Persönlichkeiten überbewertet [Hitler] oder unterbewertet [Luther]. Aus einem gescheiterten Politiker wird ein Intellektueller und aus einem Intellektuellen wird ein Versager. Ein derartiges Herangehen wird – so nehme ich an – bei weiteren Historikern auf Widerspruch stoßen. 

Schließlich halte ich es auch für nicht vertretbar, die Judenvernichtung allein aus ästhetischen Motiven her zu erklären. Hier werden handfeste machtpolitische Interessen ausgeblendet. Hitler strebte die Weltherrschaft hat und insofern wurde von ihm das „internationale Judentum“ zu einem Buhmann in seiner Aggressionspolitik. Allein dies wäre Thema einer ausgiebigen Diskussion – ich verweise hier lediglich auf die vor kurzem im E-Mail-Chat des Gesellschaftswissenschaftlichen Forums Berlin geführte Debatte.

Alfred Loesdau, Berlin

* * * * * *

Hans-Joachim Grünwaldt, Bremen

Der anregende Diskussionsbeitrag von Alfred Loesdau veranlasst mich, meine Position noch einmal zu erläutern.

Weil Alfred Loesdau unter einem Intellektuellen offenbar etwas anderes versteht als ich, muss ich, glaube ich, zunächst meiner Definition noch etwas hinzufügen. Ich finde es (anders als Loesdau) sinnvoll zwischen einem Angehörigen der Intelligenz und einem Intellektuellen zu unterscheiden. Zur „Intelligenz“ gehört danach, wer sich durch ein Studium für die Ausübung eines Berufes wie Richter Lehrer oder Verwaltungsbeamter qualifiziert hat und diesen Beruf in der Regel auch ausübt. Die meisten dieser „Intelligenzler“ sind keine Intellektuellen. Sie begreifen sich nicht als „kritische Gewissen der Gesellschaft“ (A.L.), wollen die Gesellschaft nicht aufgrund ihrer („höheren“) Einsichten formen, sondern sehen sich als ein Teil davon und tun das, wofür sie ausgebildet sind.

Sinnvoll ist es meiner Meinung nach auch, in einer Diskussion über Intellektuelle dem einzelnen Intellektuellen nicht von vornherein ein positives Zeugnis auszustellen, das heißt, nicht jedem eine „moralische Grundhaltung“ (A.L.) zu bescheinigen; nicht jedem nachzusagen, er „mahne … menschliche Werte an“. Eine solche Zuschreibung verhindert die Auseinandersetzung mit diesem Sozialtypus. Sie vernebelt darüber hinaus, dass die einzelnen Intellektuellen sehr unterschiedliche und nicht selten gegensätzliche moralische Werte vertreten. Zwischen zum Beispiel Nietzsches Aufforderung, ein Ãœbermensch zu werden, und Rosa Luxemburgs Aufruf zur Schaffung einer kommunistischen Gesellschaft liegen doch Welten.

Im Ãœbrigen möchte ich noch einmal unterstreichen, dass Hitler nach meiner Ansicht viele typische Eigenschaften eines Intellektuellen hatte. Er hatte zwar keine akademische Ausbildung, ja nicht einmal Abitur. Doch das unterscheidet ihn nicht grundsätzlich von anderen Intellektuellen (wie Thomas Mann zum Beispiel). Wie diese interessierte er sich für die Oper (besonders bekanntlich für Wagners Werke), er befasste sich mit der Malerei ( malte auch selbst, wollte sogar Kunstmaler werden). Er sah sich zudem als Architekt, entwarf Pläne für politische Protzbauten, ja sogar (zusammen mit Speer) für den Umbau Berlins zu einer Hauptstadt des großgermanischen Reiches. Vor allem aber schrieb er Bücher, in denen er seine Weltveränderungspläne detailliert darlegte, bevor er deren Umsetzung in Angriff nahm. Er vertrat nicht „die“ Macht gegen „den“ Geist. Er war in gewisser Weise ein Vertreter „des“ Geistes, der die Macht erobert hatte, um seine Vorstellungen zu verwirklichen.

Bekanntlich erkannte Thomas Mann deshalb in ihm (dem „Burschen“, wie er ihn abfällig nannte) einen „Bruder“ und zollte ihm (in seinem bekannten Aufsatz) „angewiderte Bewunderung“. Für ihn war Hitler „ein Genie“ (was ausdrücklich keine moralische Wertung darstellte), eine Verkörperung des „Phänomens des großen Mannes“, in dem sich „Verrücktheit … mit Besonnenheit“ paart.

Diese Klassifizierung Hitlers basierte darauf, dass Thomas Mann Hitler für einen Künstler hielt, für jemanden, der vor allem aus ästhetischen Motiven heraus handelt, dessen Weltbild ein quasi ästhetisches ist. Ich halte diese Deutung für richtig. Deshalb ist Hitlers Weltanschauung für mich ein Beleg für den latenten Ästhetizismus intellektueller Theorien und die daraus resultierende terroristische Praxis.

Luthers Theorie hatte (soweit sie von ihm stammte) diesen Charakter höchstens ansatzweise; dazu war sie zu widersprüchlich. Seine „Kritik an der seinerzeit vorherrschenden Kirchenlehre“ war jedoch mitnichten „revolutionär“ (A.L.) Sie war, wenn man so will, ausgesprochen „reaktionär“. Luther wollte zurück ins Mittelalter. Ihn störte nicht nur, dass man das Seelenheil mit Geld erkaufen konnte. Er war prinzipiell gegen einen selbstbewussten Umgang mit Gott. Der Mensch sollte nicht durch eigene Leistungen (wie zum Beispiel Gebete) versuchen, Gott zu einem bestimmten Verhalten ihm gegenüber zu veranlassen. Er sollte sich vielmehr ihm völlig unterwerfen. Göttliche Gnade sei auf keine Art zu bewirken, predigte Luther; man könne sie nur vertrauensvoll („sola fide“) erhoffen.

Damit versuchte Luther offenbar rückgängig zu machen, was im Italien der Renaissance in Gang gekommen war, die langsame Befreiung des Menschen von der totalen Beherrschung durch die Kirche nämlich, die Verselbständigung des Individuums, das jetzt nicht mehr in passiver Demut verharrte, sondern gegenüber den Autoritäten selbstbewusst auftrat und (letztlich am eigenen Wohl orientiert) handelte (unter Umständen sogar im kommerziellen Sinne des Wortes mit Gott).

Zu Luthers Vorstellung, dass der Mensch dies auf keinen Fall tun sollte, sondern gefälligst demütig auf göttliche Gnadenerweise zu warten habe, zu dieser Vorstellung passt aber überhaupt nicht, dass sich nach Luther der einzelne Gläubige durch Bibellektüre selbst darüber informieren sollte, was Gott den Menschen denn nun tatsächlich offenbart hatte, und es passte erst recht nicht dazu, dass er ihm zu diesem Zwecke durch die Bibelübersetzung und durch die erfolgreiche Propagierung von kirchlichem Leseunterricht sogar ermöglichte, dies auch tatsächlich zu tun, sich also ein von den kirchlichen Oberen unabhängiges Urteil zu bilden.

Er machte dies zwar, um die Gläubigen dem Einfluss der nicht selten zynischen Lebemänner im Vatikan und dessen sehr weltlicher Gefolgschaft ein Stück weit zu entziehen. Er sorgte damit aber zugleich auch für mehr gesellschaftliche Gleichheit. Der gelehrte Priester war nach Luther vor Gott nichts Besseres als der einfache Gläubige. Deshalb bekamen in den Kirchen, die Luthers Lehre übernahmen, beim Abendmahl nicht nur die Geistlichen den Wein, sondern alle. Und die Laien waren den Geistlichen fortan auch nicht mehr in der Ohrenbeichte Rechenschaft über ihr moralisches und religiöses Handeln schuldig.

Luther hatte dabei aber offensichtlich übersehen, dass sich die Gültigkeit des Prinzips der gesellschaftlichen Gleichheit nicht auf den Raum der Kirche beschränken lässt. Er war deshalb überhaupt nicht darauf vorbereitet, dass die Bauern dies Prinzip auch in Bezug auf ihr Verhältnis zu den Feudalherren realisiert sehen wollten. Und da die Fürsten ihn bisher (aus eigenem politischen Interesse!) gefördert hatten, lieferte er ihnen nun die ideologische Munition für die brutale Unterwerfung derer, die für die Durchsetzung des von ihm propagierten Gleichheitsprinzips kämpften.

Dass dies auch anders ging, machte Luthers Zeitgenosse Calvin vor. Der setzte nämlich nicht die weltlichen Oberen an die Stelle des abgesetzten Papstes (brachte also nicht den deutschen Obrigkeitsstaat mit dem für diesen typischen Bündnis von Thron und Altar auf den Weg). Er etablierte vielmehr mit der Wahl der Kirchenältesten und der Prediger durch die Gemeinde eine demokratische Kirchenverwaltung, die zum Vorbild für demokratische Strukturen im staatlichen Bereich wurde und in den calvinistisch geprägten Ländern zu einer schnelleren Demokratisierung führte als in Deutschland.

Luther ist also für mich ein intellektueller Wirrkopf, dessen Einmischung in die Politik Chaos zur Folge hat. Natürlich sollte jeder Mensch sich nicht nur für die allgemeinen Dinge interessieren, sondern sich sogar eine Meinung darüber bilden, was getan werden sollte, um die vorhandenen Probleme zu lösen. Er sollte aber meines Erachtens weder meinen, dass seine Sicht der Dinge die einzig richtige ist, noch glauben, dass es Menschen gibt, die unfehlbar das einzig Richtige erkennen können.

Insofern erheben die vorauf gehenden Ausführungen natürlich auch nicht den Anspruch, absolut richtig zu sein. Sie sind vielmehr als ein Beitrag zur Diskussion über deren gesellschaftliche Rolle zu verstehen. (Ich würde mich aber natürlich freuen, wenn ich möglichst viele von der Trifftigkeit meiner Sicht überzeugen konnte.)

 

* * * * * *

Zum Beitrag von Hans-Joachim Grünwaldt

„Eine Gesellschaft braucht Intellektuelle. Sie sind der Stachel im Fleisch, das Instrument, das Fehlentwicklungen anzeigt und durch das Bereithalten von Alternativen zum Bestehenden die Zufriedenheit damit nicht absolut werden lässt.“ Mit diesem versöhnlichen Schluss endet die Attacke gegen die Intellektuellen, die Hans- Joachim Grünwaldt, belegt mit einer Reihe interessanter Beispiele, in seinem Beitrag vorträgt. Zwar möchte er auf keinen Fall eine Herrschaft der Intellektuellen, aber als Kritiker erscheinen sie ihm höchst brauchbar.

Damit kann man sich einverstanden erklären, denn zu sehr viel mehr als zum kritischen Geist taugt diese Spezies wohl tatsächlich nicht. Aber ist das nicht schon sehr viel, durch niemand sonst zu ersetzen und also im besten Sinne unverzichtbar?

Im Beitrag von Grünwaldt sind es vor allem seine Beispiele, die zum Widerspruch, zum Disput herausfordern. Ich möchte hier gegen seine Sicht zu den DDR-Intellektuellen ein wenig mit ihm polemisieren, natürlich auch aus der Sicht eines Mannes aus dem Osten gegen einen Mann aus dem Westen. Denn dass die Urteile Grünwaldts über die DDR-Intellektuellen aus einer bestimmten historisch und geographischen Richtung kommen, ist wohl mehr als deutlich – und sicher auch verständlich.

Ganz allgemein wird in dem Beitrag davon ausgegangen, dass das Denken der Intellektuellen durch Lebensferne gekennzeichnet sei, dass die zu bedenkenden Probleme aus größerer Distanz angeschaut werden, dass die spezifische Sozialisation des Intellektuellen ihn von der Masse seiner Mitbürger entferne. Daraus ergebe sich, so Grünwaldt, dass es bei der Beurteilung von Problemlagen und bei Alternativvorschlägen nicht selten zur Formulierung von Gruppeninteressen komme und längst nicht immer allgemeine Interessen formuliert werden.

All das kann unter bestimmten Bedingungen für Intellektuelle Gültigkeit haben. Für die DDR-Intellektuellen aber ist es falsch.

Die Masse der Intellektuellen in der DDR rekrutierte sich - was die ältere Generation betrifft - aus lebenserfahrenen Persönlichkeiten, die durch Emigration oder/und Widerstand gegen den Nationalsozialismus geprägt und mit linken, sozialistischen oder kommunistischen politischen Bewegungen eng verbunden waren, wofür Namen wie Becher, Brecht, Friedrich Wolf, Stephan Hermlin, Robert Havemann und Stefan Heym stehen; was die jüngere Generation angeht, so war sie natürlich von den Lebensanschauungen und Haltungen der Älteren beeinflusst, gewann aber in den komplizierten Jahrzehnten der wirtschaftlichen, politischen und geistig-kulturellen Entwicklung in der DDR eigene praktische Erfahrungen, die sie befähigte, kritische Positionen zu beziehen, die keineswegs als Gruppeninteressen zu definieren sind. Hier sei an Wolfgang Harich, an Christa Wolf, Heiner Müller und andere erinnert. Vielleicht ist es ein wenig überzogen, was Werner Mittenzwei in seinem Buch Die Intellektuellen. Literatur und Politik in Ostdeutschland 1945 – 2000 aus dem Jahre 2003 (vgl. Rezension dazu) über die spezifische Funktion eines Intellektuellen in der geschlossenen Gesellschaft schreibt, im Kern muss man ihm jedoch zustimmen: „Eben weil es keine Ventilfunktion gab, schätzte das Publikum an den Dichtern mehr als deren Kunstfertigkeit das Vermögen, das auszudrücken, was viele bewegte und bedrückte. Hierin bestand die eigentliche privilegierte Existenz der Schriftsteller. (Hervorhebung von mir) Je häufiger die Politiker die politische Aussprache über gesellschaftliche Widersprüche einschränkten, desto mehr Gewicht und Popularität bekam die literarische Wortmeldung. Die Dichter ... wurden so zu den eigentlichen Volksvertretern.“

Sicher gab es für bestimmte Gruppen in der DDR – und dazu gehörten prominente Künstler und Schriftsteller – gewisse Privilegien. Aber sie prägten nicht das kritische Verhalten jener Intellektuellen, die sich für ihr Land und die Menschen in diesem Land öffentlich einsetzten.

Wenn man heute den Aufruf Für unser Land liest (vgl. Dokumente), in dem sich die Unterzeichner für eine erneuerte DDR aussprachen, dann kann man m. E. nicht an der Ernsthaftigkeit dieses Vorschlages zweifeln, zumal die dort beschrieben negativen Folgen einer schnellen Vereinigung beider deutscher Staaten tatsächlich eingetreten sind.

Hans-Joachim Grünwaldt sieht das anders: „Sie mussten aber fürchten, dass sie durch eine schnelle Angliederung der DDR an die Bundesrepublik nicht nur ihre bisherigen Vorrechte, sondern sogar ihren sozialen Status als zwar kritische, aber letztlich in das gesellschaftliche System der DDR integrierte geistige Elite verlieren würden und aufgrund ihrer mehr oder weniger großen bisherigen Verflochtenheit mit dem Gesellschaftssystem der DDR es dann schwer hätten, in der Bundesrepublik wieder zu d e m Ansehen und Einkommen zu kommen, das dem früheren in der DDR auch nur halbwegs entsprach. Insofern war ihr Eintreten für ein sozialistisches, aber liberales Ostdeutschland nicht nur, vielleicht sogar nicht zuerst der Kampf um eine wünschbare Utopie, deren Verwirklichung das Beste für die überwiegende Mehrheit der Deutschen gewesen wäre. Es entsprach völlig ihrem Gruppen-Interesse.“

Diese Sicht reflektiert in gewisser Weise eine Art Mentalitätswandel in der westdeutschen Öffentlichkeit, vor allem in den großen Zeitungen und deren meinungsbildenden Feuilletons. Dort waren kritische DDR-Intellektuelle viele Jahre bevorzugt behandelt, ob ihres Mutes gelobt und in ihren Positionen bestärkt worden. Nun aber, mit dem Ende der DDR, wandelten sich die Darstellung und die Stoßrichtung: aus dem mutigen Kritiker und Verteidiger von Meinungsfreiheit wurde plötzlich der angepasste, systemtreue Verteidiger der eigenen Privilegien, wenn nicht gar eine Art Verräter. Der Umgang der westdeutschen Öffentlichkeit mit der Schriftstellerin Christa Wolf vor und nach dem Ende der DDR ist dafür beispielhaft. -

Übrigens: Die Intelligenz der DDR hat tatsächlich ihren sozialen Status verloren, und zwar total. Nach UNESCO-Berechnungen wurden nach der Wende und den vielfältigen Abwicklungen wissenschaftlicher u.a. Einrichtungen nur noch 12 Prozent der bisherigen Angehörigen der wissenschaftlichen, technischen und künstlerischen Intelligenz beschäftigt.

E. Fromm