Dietz Bering
Die Epoche der Intellektuellen 1898 – 2001
Geburt – Begriff – Grabmal
Berlin 2010


Wer den Autor nicht kennt und dem Titel vertraut, erwartet in diesem Buch eine Geschichte des Intellektuellen im 20. Jahrhundert. Aber das kann und will dieses opulente Werk – immerhin 600 Textseiten und 150 Seiten Anhang – nicht leisten. In dem einleitenden (I) "Panorama“ wird dem Leser schnell klar gemacht, was ihn erwartet. "Am Ende des 19. Jahrhunderts“, heiát es dort, "war der historische Prozess so weit gediehen, dass die Kreation und der Einsatz eines neuen Wortes unumg„nglich schien, wenn man das Neuartige ad„quat fassen, kr„ftigen und effektvoll nutzen wollte.“ (17) Es geht also um eine Wortgeschichte, um die Entstehung und Ver„nderung eines "Kernbegriffs der Wissens-, Wertungs- und Machtsysteme“ (20) Und der Autor bietet dem Leser noch mehr an, wenn er schreibt: "Man kann diese 'Biographie’ eines Begriffs ber die angefhrten Register auch als Handbuch und Nachschlagewerk fr die Beschimpfung von Intellektuellen oder auch fr ihren deutlich schw„cheren Ruhm benutzen.“ (22) Zugleich distanziert er sich von jenen "Verfahrensweisen, die sich zuerst einen modernen, heutigen Intellektuellenbegriff verfertigen und ihn dann als Maástab in die Gegenwart hineinlegen oder in die Vergangenheit rckprojizieren. Bei dieser Art des Zugriffs werden historische und Figuren von heute einfach zu Intellektuellen 'ernannt’, die nach eigener Auffassung und der ihrer Mitwelt oft gar keine waren.“ (22) Wer nach einer Bestimmung oder auch nur Beschreibung dieses neuartigen Typs "Intellektueller“ sucht, wird entt„uscht sein. In vierzehn Abschnitten wird dagegen auf interessante Weise und mit einem reichhaltigen Belegmaterial auf Fragen eingegangen wie Wer nennt sich Intellektueller? Wer wird von wem so genannt? Welchen Sinn und welches Ziel verfolgt man mit dem Begriff?
In der historischen Darstellung, die mit der (II) "Geburt des Intellektuellen“ einsetzt, wird in den ersten Teilen im Wesentlichen die Arbeit des Autors "Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpfwortes“ aus dem Jahre 1978 wiederholt. Es geht dabei um die šbernahme des Begriffs aus Frankreich nach Deutschland und seine Verwendung im Nationalsozialismus, im Marxismus und in der Weimarer Republik durch das liberale Brgertum. Der Autor bestimmt den neuen Begriff als eine Art Fahnenwort, als ein " ein Gruppen konstituierendes Zeichen“ (59). Der zweite, neue Teil des Buches setzt mit dem "Geistigen Aufbau 1945 – 1950“ ein, behandelt eingehend die mit der Spiegel-Aff„re und der 68er-Bewegung verbundenen Ver„nderungen des Begriffs bzw. seiner Verwendung, geht auf die Situation nach der deutschen Wiedervereinigung ein (VI. "Das Schweigen der Intellektuellen. Deutsch-Deutscher Literaturstreit“) und fragt abschlieáend nach dem Ende (VII. "Das Grabmal der Intellektuellen“) und einer Wiedergeburt. Auff„llig ist das Fehlen des Wortgebrauchs im Osten Deutschlands zwischen 1945 und 1990. Immerhin existieren doch bereits mehrere Arbeiten zum Intellektuellen-Problem in der DDR.
Im abschlieáenden Abschnitt ("Methodische Selbstvergewisserung“), den der Autor nicht jedem Leser zumuten will, weshalb er ihn an den Schluss des Buches gestellt hat, resmiert er noch einmal nachdrcklich: "Wir wollen eine kulturwissenschaftliche Sprachgeschichte schreiben.“ (588).
E. Fromm